Eine Tischrede über Mutig-Sein und Angst. Ich habe sie während der Lesbentagung  „Freiheit, Liebe und Verantwortung“  in der Ev. Akademie Bad Boll am 17. Dezember 2016 gehalten.

Guten Abend liebe Damen und Damen.

Es ist mir eine Ehre heute Abend einen Beitrag zu den den klugen Tischreden beizusteuern. Zu Beginn meiner Tischrede stelle ich ein Zitat von Audre Lorde. Sie ist eine schwarze lesbische Frau aus der Karibik. Sie hat in den USA gelebt, war Mutter von vier Kindern und liebte Frauen. Sie hat gegen ihre Krebserkrankung und für palliative Pflege gekämpft und ist 1992 viel zu früh an Krebs gestorben. Sie ist für mich seit meiner Studentinnenzeit bis heute ein Vorbild und eine Ermutigerin. Ihre Sätze begleiten mich seit ich sie Mitte der Achtziger Jahre in Hamburg selbst auf einer Veranstaltung erlebt habe.

„When I dare to be powerful,
To use my power in the service of my vision,
It is less and less important
Whether I am afraid.”

 „Wenn ich mich traue kraftvoll zu sein
Und meine Kräfte im Dienst meiner Visionen zu nutzen,
Macht es weniger und weniger aus,
Dass ich Angst habe.“

 

Visionen gegen die Angst

Es wird diese Tage, Wochen und Monate viel von Angst gesprochen. Besorgte Bürgerinnen und Bürger verpacken ihre rassistischen, sexistischen, homo- und transfeindlichen Sprüche, Vorurteile und Hasstiraden in verquarzte Sätze von Besorgnis und Angst vor Geflüchteten, vor „Überfremdung“, Angst vor „Frühsexualisierung“ ihrer Kinder, Angst überhaupt vor allem, was sie nicht kennen und was anders ist als sie selbst.

Diese Angstrhetorik verbinden sie mit unverhohlenen Hasstiraden, Gewaltaufrufen und Shitstorms in den sozialen Medien, in eigenen Informationskanälen und in ihren rechtspopulistischen und AFD- und PEGIDA-nahen Versammlungen. Nicht wenige von ihnen bezeichnen sich als Christen, evangelikal, rechtgläubig und bibeltreu, die letzten Hüter des christlichen Glaubens.

Ja, diese Entwicklung macht mir Angst. Angst davor, dass der brüchige Konsens einer besonnen Mehrheit verloren geht, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist und dass Respekt und Achtung vor den Anderen, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Geschlechtsidentität, Alter, Religionszugehörigkeit oder sexuellen Orientierung die Grundlage unseres demokratischen Staats und unserer Zivilgesellschaft sind.

Wenn ich in die USA nach der Wahl von Donald Trump schaue, bekomme ich noch mehr Angst vor rechtsgerichteten, weißen, selbstgefälligen Homohassern, Rassisten, Waffenlobbyisten und Pluralitätsverweigerern. Es soll alles wieder so sein, wie es einmal war: Weiße Privilegien, koloniale und rassistische Strukturen, frauen, homo- und transfeindliche Gesetzgebungen sollen bitte wieder her, damit die armen Mittelstandsmänner in ihrer Midlifecrisis wieder wissen, wo´s lang geht und wie sie ihre Privilegien auf Kosten von anderen so durchsetzen können wie früher.

Und in dieser menschen-, frauen-, homo- und transfeindlichen Gemengelage ruft mir Audre Lorde zu, dass es nicht schlimm ist, dass ich Angst habe, dass du Angst hast, dass wir Angst haben. Wenn ich – du – wir nur nicht unsere Visionen aus den Augen verlieren.
Welche Visionen? Die nach einer gerechten Welt, die nach geschwisterlicher Solidarität, sozialer Gerechtigkeit und rechtlicher und sozialer Gleichstellung von queeren Lebensweisen. Die Vision nach einer Welt, in der andere Werte zählen als nur Profit, Leistungssteigerung und Konsumwachstum: Zeit füreinander, Begegnungen mit anderen, um voneinander lernen und miteinander feiern zu können. Zu naiv?

 

Intersektionalität

Es geht also darum, meine Visionen nicht zu verlieren – trotz oder gerade weil die Welt immer rechtspopulistischer, extremistischer und gewaltbereiter gegen Minderheiten wird.

Aber wie mache ich das? Wie ist es möglich, meine Visionen nicht zu verlieren?
Auch da hilft mir Audre Lorde.

Sie war eine schwarze Frau und Mutter von vier Kindern. Sie war verheiratet, geschieden und mit einer Frau zusammen. Sie hat sich gegen jede Kategorisierung und Schubladeneinteilung gewehrt. Sie wollte die sein, die sie war, mit allen ihren Stärken und Schwächen, Sorgen und Nöten, mit ihren Sehnsüchten, Hoffnungen, Wünschen und Visionen. Sie hat sich eingesetzt für einen intersektionalen Blick auf die Welt, auf den Alltag, auf das Leben: Menschen sind nicht nur schwarz oder weiß, nicht nur homo oder hetero, Mann oder Frau, jung oder alt, Geliebte oder Mutter. Sie sind so viel mehr. Und all das ist ineinander verwoben, verschachtelt, fließend ineinander übergehend, anders, faszinierend, schillernd, unerklärlich, beängstigend, verwirrend und verzaubernd zugleich.

Sie war all das und noch viel mehr: unabhängig, poetisch und kämpferisch, religiös und politisch aktiv. Schwarz-Weiß-Malerei hat sie nicht geduldet. Ihre Poesie war bunt wie die Karibik, von der sie herkam, kraftvoll wie ihre Gesellschaftsanalysen, die bis heute aktuell sind.

Mit der jüdischen Schriftstellerin und Professorin Adrienne Rich hat sie viel zusammen gearbeitet und gemeinsam und ein Buch herausgegeben. Adrienne Rich hat in dem Buch den Begriff Zwangsheterosexualität geprägt, als Markierung dafür, dass es noch bis in die achtziger Jahre – und an vielen Orten weltweit bis heute – nicht möglich ist, die eigene sexuelle Identität jenseits der heterosexuellen Norm frei zu wählen (oder von den Wahlmöglichkeiten überhaupt erst einmal zu wissen), ohne kriminalisiert, ausgegrenzt oder sogar verfolgt zu werden. Heute nennen wir es Heteronormativität. Aber der subtile Zwang besteht an vielen Orten der Welt weiterhin. Deshalb ist der Begriff Zwangsheterosexualität, also die Abwesenheit von einer ernsthaften fairen Wahl, immer noch aktuell.

Audre Lorde hat den Begriff lesbisches Kontinuum geprägt. Statt sich in einer engen soziologischen Kategorie von lesbisch oder nicht lesbisch zu outen und festlegen zu müssen, hat sie verschiedene Lebensformen in einem sich ständig verändernden Kontinuum gesehen. Frauenfreundschaften, in Italien die Affidamento-Bewegung, Frauensolidarität und vielfältige Frauenbeziehungen mit und ohne Sexualität hat sie darunter gefasst. Dafür hat sie sich nicht nur Freundinnen gemacht. Denn auch die so genannte Lesbenszene der achtziger Jahre war manchmal nicht weniger engstirnig, dogmatisch und ausgrenzend als die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft.

Lesbisches Kontinuum. Dieser Begriff war kein Zufall. Audre Lorde hat ihn mit Bedacht gewählt. Denn das Leben ist brüchig, fragmentarisch, fließend und kontinuierlich im Wandel begriffen. Audre Lorde selbst war das beste Beispiel: Sie war schwarz und Mutter und in einer Frauenbeziehung in einer Zeit, als das nur selten zusammen gedacht werden durfte. Adrienne Rich war jüdisch und verheiratet. Sie war Mutter, lesbisch, feministisch und linkspolitisch aktiv, in einer Zeit, als in vielen linken Kreisen der westlichen Welt Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus vor sich her getragen wurde. Die beiden Frauen haben intersektionale Arbeit quer zu Etikettierungen und Schubladen vorgelebt und vorgedacht, als das Wort Intersektionalität noch gar nicht gebraucht wurde.

Sie haben sich über Kategorien hinweggesetzt, weil ihre Vision eine bunte, vielfältige, paradoxe, heterogene und queere Welt ohne Etikettierungen beinhaltet hat.

 

Freiheit – Liebe – Verantwortung

Audre Lorde und Adrienne Rich, wie viele andere Ermutigerinnen, waren frei im Denken und im Handeln – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – trotz aller gesellschaftlichen und alltäglichen Grenzen, Hindernisse und Empörungen. Dafür haben sie bezahlt mit Rückschlägen, Karriereknicks und gläsernen Decken, aber auch mit kleinen Erfolgen, Erfahrungen von Solidarität, Festen und Freuden. Diese Freiheit haben sie sich genommen und mich, dich, uns dazu eingeladen, es ihnen nach zu tun, selbstverständlich in anderen Zeiten, anderen Kontexten und mit anderen Alltagserfahrungen. Die muss ich, du, wir selbst durchbuchstabieren und ins eigene Leben übersetzen. Das ist meine Verantwortung, deine, unsere.

Aber wenn ich spüre, dass ich meine Kraft für meine Überzeugungen und Visionen einsetze, dann habe ich zwar immer noch Angst vor Gegenwind, Repressalien, Hasstiraden und Männern wie Trump, aber ich lebe mein Leben trotzdem Schritt für Schritt, wie ich es mit meinen Freundinnen und Freunden, Mitstreiterinnen, Familien, Schwestern und Brüdern leben möchte. Mit allen Rückschlägen, mit allen Enttäuschungen, Grenzen, Hindernissen, Umwegen und Grenzerfahrungen.

Trotzdem – oder gerade deswegen – ist seit den achtziger Jahren schon viel passiert. Sogar in den christlichen Kirchen. Zumindest in den evangelischen Landeskirchen sind bis auf Württemberg verschiedenen Formen von Partnerschaftssegnungen möglich. Und auch in der Ev. Lutherischen Kirche in Württemberg läuft eine Unterschriftenpetition zur Ermöglichung von Partnerschaftssegnung. Es wird auch in Württemberg irgendwann möglich sein. Denn die Liebe ist stärker als Vorurteile und Hass! Das ist eine gute Nachricht. Und es ist eine Entwicklung, die vor zehn Jahren so noch nicht abzusehen war. Selbst die EKD denkt vielfältiger über Familienformen nach und sieht Regenbogenfamilien mittlerweile als gleichwertig an. Und auf der internationalen Bühne des Ökumenischen Rats der Kirchen wird das Thema der sexuellen Minderheiten nicht zuletzt wegen der Präsenz von so vielen internationalen Lesben, Schwulen, Bi-, Trans-, Intersexuellen und Queers in weltweiter Zusammenarbeit auf Synoden, Vollversammlungen, in Workshops und in sogenannten Reference-Groups diskutiert. Und auch die katholische Kirche ist seit Papst Franziskus in einen neuen Diskussionsprozess über Wiederverheiratete, Familien und verschiedene Lebensformen eingetreten. Auch wenn sich das in offiziellen Dokumenten noch nicht widerspiegelt und weiterhin viel zu tun bleibt:
An der Basis, auf Katholikentagen und hinter geschlossen Amtstüren ist das Thema der Lebensformen auch in der katholischen Kirche schon lange in Bewegung. Das macht Hoffnung. Allen gegenwärtigen politischen Entwicklungen zum Trotz.

 

Fazit
Ich kann mutig sein – auch gegen die Angst. Ich darf mir die Freiheit nehmen, mein Leben zu leben, zu lieben, wen ich liebe, und respektvoll mit meinem Gegenüber umzugehen.
Denn wir alle sind Kinder Gottes. Wir sind Kinder der Lebendigen, der Schöpferin von Himmel und Erde – unabhängig, von Hautfarbe, Geschlechtsidentität, Herkunft, Alter, Glaube und sexueller Orientierung.

Und: wir sind alle verwundbar und zerbrechlich. Wir sind angewiesen aufeinander, geschwisterlich und solidarisch. Keine schafft´s ganz allein.

Ich schließe daher mit einem Zitat von einem meiner Lieblingsmusiker, mit STING, und zitiere aus seinem Song „Fragile“ (zerbrechlich), den er als ersten Song zur Wiedereröffnung des Clubs Bataclan in Paris im November 2016 – ein Jahr nach den schrecklichen Terroranschlägen im November 2015 auf einem Konzert gesungen hat:

 

„Wenn Fleisch und Stahl eins werden, fließt Blut.
Es trocknet im Abendrot, und der Regen des folgenden Tages spült die Flecken fort.
Aber etwas wird für immer auf unserer Seele zurückbleiben.

Vielleicht liegt der Sinn dieses Schlussakts darin,
ein für allemal dieses lebenslange Gezerre mit einer Erkenntnis zu beenden: dass Gewalt zu nichts führt und noch keinem etwas gebracht hat – auch denen nicht, die von Natur aus streitsüchtig und kriegslüstern veranlagt sind.
Und wir alle sollten nie vergessen, wie zerbrechlich wir doch sind.

Es wird regnen und regnen und regnen –
so, als ob die Sterne weinten.
Und der Regen wird uns daran erinnern,
wie zerbrechlich wir doch sind,
wie zerbrechlich wir doch sind.“

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Heute, am Tag nach dem furchtbaren Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin, widme ich das Zitat den Opfern und Verletzten, ihren Angehörigen, Freundinnen und Freunden.