Schon lange habe ich nicht mehr ein Buch mit so viel Neugier gelesen wie das autobiografische Werk von Michelle Obama „Becoming“, Werden.

Das Buch hat mich gefesselt. Die Lebensgeschichte von Michelle Obama, geb. Robinson, ist spannend. Bei weitem nicht nur weil sie Barack Obamas Ehefrau ist. Und es ist ein ermutigendes Buch. Es ist in drei Teile aufgeteilt: Becoming Me – Ich werden, Becoming Us – Wir werden, Becoming More – Mehr werden.

Innerer Fixpunkt des Buchs ist die bescheidene Wohnung der Familie Robinson in der Euclid Avenue im Süden Chicagos. Es gab zwei Etagen in dem Haus. Unten lebten Michelles Tante Robbie und ihr Onkel Terry, denen das Haus auch gehörte. Robbie unterrichtete die Kinder im Viertel auf dem Klavier. Auch Michelle ging durch ihre strenge Schule und lernte das Instrument und die Musik lieben. Terry war Zugschaffner. Es war ein respektabler und gut bezahlter Job für einen Schwarzen in der damaligen Zeit. Michelles Großvater, ein professioneller Zimmermann, hatte zum Einzug von Michelles Familie die Zimmer mit einer Zwischenwand ausgestattet, sodass sich Michelle und ihr älterer Bruder Craig ein Zimmer teilen konnten. Sie führten in ihrer Jugend in dem Zimmer eine Art „Spiegelexistenz“, wie Michelle es in ihrem Buch beschreibt. Beide arbeiteten sich aus bescheidenen Verhältnissen heraus, Craig als sehr talentierter Basketballer, Michelle als gute Schülerin. Und schließlich landeten sie beide mit Stipendien an der Princeton University. Princeton ist eine der Elite- Universitäten der Vereinigten Staaten, auf die es für Schwarze damals fast unmöglich war zu studieren.

Michelles Eltern kamen aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater Fraser Timothy Robinson war Metzger, bis er zum Maschinisten umgeschult wurde. Er wartete die Kessel einer Wasseraufbereitungsanlage am Ufer des Lake Michigan. Er starb bereits mit 55 Jahren an den Folgen einer Multiple Sklerose Erkrankung. Ihre Mutter Marian war im Süden Chicagos geboren worden. Sie war Sekretärin und kümmerte sich liebevoll um ihre beiden Kinder. Ihre Vorfahren waren größtenteils schwarze Sklaven aus den Südstaaten.

1981 machte Michelle an der Whitney Young Magnet High School ihren Abschluss. Sie studierte danach Soziologie und Afroamerikanische Studien an der Princeton University. Diese Fächer schloss sie 1985 mit einem Bachelor of Arts ab. Danach studierte sie Jura an der Harvard University und schloss ihr Studium 1988 ab. Danach arbeitete sie als Juristin in einer renommierten Anwaltskanzlei Sidley & Austin in Chicago. In der Kanzlei lernte sie Barack Obama kennen, der dort als Jurastudent ein Sommerpraktikum absolvierte. 1992 heirateten die beiden. Sie haben zwei Töchter, Malia Ann (*1998) und Natasha (*2001).

Was ich nicht wusste, bevor ich das Buch gelesen hatte: Michelle hatte bereits eine beeindruckende Karriere vorzuweisen, bevor sie zu First Lady der Vereinigten Staaten wurde. Sie hat als Anwältin in einer renommierten Anwaltskanzlei gearbeitet. Sie wurde anschließend Beraterin des Bürgermeisters und Hilfsbevollmächtigte für Planung und Stadtentwicklung von Chicago. Parallel wurde sie 1993 Geschäftsführerin des Chicagoer Büros der Nichtregierungsorganisation „Public Allies“. 1996 wechselte sie zur University of Chicago und war für das University Community Center zuständig. Später wurde sie Geschäftsführerin und Vizepräsidentin für „Community and External Affairs“ im University Community Center. Sie trug Verantwortung und und agierte mit Übersicht und Intelligenz. Michelle Obama war ehrgeizig, klug und gebildet und hatte die besten Universitäten des Landes besucht. Sie hatte sich mit viel Fleiß und Durchsetzungswillen eine eigene berufliche Existenz aufgebaut.

Und dann kündigte ihr Ehemann Barack Obama seine Kandidatur zum Präsidentschaftswahlkampf an. Das veränderte alles. Nicht nur in seinem Leben. Michelle entschied sich, ihre eigene Karriere zurückzustellen und sich ganz auf den Wahlkampf ihres Mannes zu konzentrieren. Ein klassisches Karrieremuster einer gebildeten Frau. Aber Michelle war nicht nur Wahlkampfdekoration. Sie fiel sofort durch ihre humorvolle und kluge Art zu reden auf. Sie absolvierte unzählige Wahlkampfveranstaltungen, gab Interviews, besuchte Schulen und Universitäten und ermutigte vor allem Mädchen und junge Frauen, ihre eigenen Wege zu gehen und sich nicht von Männern abhängig zu machen. Sie erweckte durch ihren humorvollen und intelligenten Redestil von Anfang an reges Interesse bei den Medien. Es wurde schnell klar, dass sie eine gut ausgebildete Frau war, die zwar aus einfachen Verhältnissen aus dem Süden Chicagos kam, die sich aber mit viel Ehrgeiz und mit Hilfe ihrer Familie, Mentoren und Mentorinnen hochgearbeitet hatte. Sie war zu einer interessanten und sympathischen Persönlichkeit gereift. Ihr machte niemand etwas vor. So wurde sie bald zur wichtigsten Person in Barack Obamas Wahlkampfteam.

Nach der Wahl von Barack Obama zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten bemühte sich Michelle Obama um ihre eigene Rolle und Funktion als First Lady im Weißen Haus. Schnell war klar, dass sie nicht nur Hof halten und Bälle organisieren würde, sondern dass sie auch inhaltlich etwas bewirken wollte. Sie konzipierte mit ihrem Team verschiedene Projekte, die vor allem Mädchen und junge Frauen im Bildungsbereich unterstützen sollten. Sie ließ im Weißen Haus einen großen Garten anlegen, pflanzte regionales Obst und Gemüse und lud Schulklassen aus Chicago ein, mit ihr zu säen und zu ernten. Parallel dazu plante sie verschiedene Projekte für gesunde Ernährung und für mehr Bewegung für Jugendliche und Erwachsene, die sie und ihr Team auch umsetzten. Die gesunde und gleichberechtigte Entwicklung von Kindern und Jugendlichen vor allem aus benachteiligten und bildungsfernen Kontexten und aus schwarzen Vierteln waren ihr ein Herzensanliegen. Für ihre Projekte fand sie namhafte Sponsoren und Unterstützer. Zudem brachte sie mehrere große Firmen und Unternehmen dazu, den Zuckergehalt in der Nahrungsmittelproduktion zu reduzieren und Inhaltsstoffe eindeutiger zu kennzeichnen.

Was mich besonders berührt hat: Wie sehr sie als extrem kluge Frau mit besten Zeugnissen und eigener Karriere trotz allem unsicher war, ob sie „gut genug“ war für die Aufgaben, die sie zu erledigen hatte. Ihre Verunsicherung, die, wie sie selbst schreibt, von ihrem einfachen Hintergrund stammt, hat sie immer wieder angetrieben, sich selbst und der Welt zu zeigen, dass sie tatsächlich gut ist. Das Narrativ hieß für sie: Sei doppelt so gut wie die anderen, damit du halb so sehr wahrgenommen und anerkannt wirst wie die Mehrheitsgesellschaft! Diesen Mottosatz hat sie durch ihr bisheriges Leben durchbuchstabiert. In der Art und Weise, wie sie zur Persönlichkeit gereift ist und sich selbst gefunden hat. Wie sie als schwarze Frau in der Partnerschaft ihren liebevollen Partner und Ehemann Barack Obama lieben gelernt hat und wie sie zum Ehepaar gereift sind. Wie sie als Ehefrau, Mutter und spätere First Lady über sich hinaus gewachsen ist und sich für nicht nur für ihre Töchter, sondern für zahlreiche benachteiligte Kinder und Jugendliche eingesetzt hat.

Wie nahe Trauer und Freude im Amt des Präsidenten-Ehepaars der Vereinigten Staaten beieinander lagen, erzählte Michelle mit folgender Begebenheit: Ende Juni 2015 ist sie mit ihrem Ehemann nach Charleston in South Carolina geflogen, um mit der Gemeinde der „African Methodist Episcopal Church“ um ihren Pastor Clementa Pickney und um acht weiteren Menschen aus der Gemeinde zu trauern. Sie waren Opfer eines rassistischen Mordanschlags geworden. Bei der Trauerfeier hielt Barack Obama den Nachruf für die Verstorbenen. Er begann spontan die erste Strophe von Amazing Grace zu singen. Für Worte war kein Platz. Denn er hatte Tränen in den Augen. Der ganze Saal stimmte daraufhin in das Lied ein. Dieser besondere Nachruf ging digital um die Welt und zeigte, wie mitfühlend und nahbar die Obamas sind und waren.

Am selben Tag, an dem die Trauerfeier in Charleston gefeiert wurde, am 26. Juni 2015, verkündete der Supreme Court, dass gleichgeschlechtliche Paare in allen fünfzig Bundesstaaten der Vereinigten Staaten das Recht hätten zu heiraten. Als die Obamas wieder in Washington ankamen, wurde überall gefeiert. Das Weiße Haus erstrahlte an jenem Abend in Regenbogenfahnen und Hunderte Schaulustige feierten diesen besonderen Anblick. Michelle Obama wollte das Weiße Haus in Regenbogenfarben unbedingt auch sehen. Gemeinsam mit ihrer Tochter Malia versuchte sie sich aus dem Weißen Haus zu schleichen. Doch Sicherheitsoffiziere verboten es ihnen aus Sicherheitsgründen. Schließlich gelang es ihnen unerkannt durch den Lieferanteneingang aus dem Haus zu schleichen. Sie umrundeten die Büsten von George Washington und Benjamin Franklin, durchquerten die Küche und dann standen sie draußen im Garten. Sie befanden sich außer Sichtweise der Menge. Aber sie konnten selber alles gut überblicken. Sie hörten das Stimmengewirr und den Jubel, und sie sahen das Weiße Haus in allen Regenbogenfahnen angestrahlt. Michelle und ihre Tochter hatten es geschafft. Und sie feierten im Stillen mit der Menge mit. Was für eine Geschichte!

Diese kleine Begebenheit hat mich sehr berührt. Sie hat mir gezeigt, wie solidarisch Michelle und Barack Obama im Amt mit ganz verschiedenen Minderheitsgruppen waren und wie sie sich für Gleichberechtigung aller Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung eingesetzt haben. Es war ein stiller Triumph und zugleich ein trauriger Tag, an dem neun Gemeindeglieder einer christlichen Gemeinde aus Charleston zu Grabe getragen wurden.

Insgesamt kann ich das Buch uneingeschränkt empfehlen. Es porträtiert eine kluge und engagierte Frau aus einfachen Verhältnissen in Chicago, die sich mit Fleiß und Energie durchsetzt. Sie gründete mit ihrem Mann eine liebevolle Ehe und eine Familie. Und sie setzte sich in all ihren Positionen für Benachteiligte ein. Mit Herz, Mut und Verstand. Und sie hat andere Frauen und Männer immer wieder ermutigt, es ihr nachzutun.

Was sie dazu abschließend schreibt:

„ Ich bin als ganz normaler Mensch auf einen außergewöhnlichen Weg geraten. Indem ich meine Geschichte teile, kann ich hoffentlich dazu beitragen, einen Raum für andere Geschichten und andere Stimmen zu schaffen, die Wege so zu erweitern, dass mehr Menschen aus vielfältigeren Gründen auf ihnen gehen können. (…) Für jede Tür, die mir geöffnet wurde, habe ich versucht, meine eigenen Tür für andere zu öffnen. Und das ist es, was ich letztendlich sagen will: Laden wir uns gegenseitig ein. Vielleicht können wir dann ja anfangen, weniger Angst zu haben, weniger oft von falschen Voraussetzungen auszugehen, die Vorurteile und Klischees, die uns unnötigerweise voneinander trennen, einfach loszulassen. Vielleicht werden wir dann offener für die vielen Aspekte, in denen wir gleich sind. Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Es liegt eine große Kraft darin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass man erkannt und gehört wird. Darin die eigene, einzigartige Geschichte für sich zu beanspruchen, mit der eigenen, authentischen Stimme zu sprechen. Und es liegt eine große Anmut und Gnade darin, andere erkennen und hören zu wollen. Das ist es, was ‚Werden‘ für mich heißt.“ (Michelle Obama, Becoming, S. 538).

Michelle Obama hat ihre Stimme gefunden und ihre bisherige Geschichte aufgeschrieben. Ich hoffe, sie kann viele dazu inspirieren, es auch zu tun.

Zum Weiterlesen:

Michelle Obama, Becoming. Meine Geschichte, München 2018