Wegen meines Sabbaticals habe ich lange keine Blogeinträge mehr veröffentlicht. Zum heutigen Tag des #Comingout veröffentliche einen Text über mein eigenes Comingout.

Hässliches Entlein

Ich bin Jahrgang 1963. Mit Mitte zwanzig las ich die Geschichte vom hässlichen Entlein von Hans Christian Andersen. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war in meiner Jugend so ein hässliches Entlein gewesen. Wieso war ich da nicht schon früher drauf gekommen? Ich fühlte mich damals hässlich und traute mich manchmal gar nicht aus dem Haus. Noch schlimmer war es, dass ich mich auf dem Schulhof und in meiner Klasse nicht mehr auskannte. Ich verstand den ganzen Aufstand um die Jungs nicht. Ich musste auch nicht dauernd irgendwelchen Jungs hinterherlaufen, nur um anzufangen zu stottern, wenn sie sich wirklich mal umdrehten. Es war, als wäre in der Klasse ein Drehbuch ausgeteilt worden und alle hätten ihre Rolle bekommen. Nur ich hatte das Skript noch nicht gesehen und hatte keine Ahnung, was abging. Ich spürte nur, dass ich irgendwie anders war. Wie das hässliche Entlein, das älter wurde und immer mehr von den anderen Entlein angestarrt wurde, weil es nicht so recht zu passen schien. Was mich interessierte, interessierte die anderen nicht. Und umgekehrt.

Verehrerin von ABBA

Ich war zum Beispiel seit meinem 13. Lebensjahr glühende Verehrerin von ABBA. Ich liebte die beiden Frontfrauen Agnetha und Anni-Frid und fand es super cool, dass endlich einmal zwei Frauen die Frontsängerinnen einer Band waren und nicht nur irgendwelche Männer, deren Gesichter ich vor lauter Haaren nicht erkennen konnte. Zwei Frauen, die gut aussahen, gute Stimmen hatten und die in ihren Bühnenshows miteinander Choreografien aufführten und peppige Songs sangen. Das fand ich klasse. Allein mit meinem Langenscheid Wörterbuch versuchte ich den Text vom Song ‚Fernando‘ von meiner ABBA Langspielplatte zu übersetzen. Selbstverständlich musste ich den Song dafür gefühlte 100 Mal am Tag abspielen, was mein Umfeld wahnsinnig machte.

Frühe Existenzialistin

Ab meinem 16. Lebensjahr beschäftigte ich mich auch mit geistlicher Musik. Ich interessierte mich seit meinem Eintritt in den Jugendchor der evangelischen Kirchengemeinde dafür. Wir sangen Stücke von Bach, Bruckner und Schütz, und gemeinsam mit dem Oratorienchor führten wir das Deutsche Requiem von Brahms auf. Das Requiem fand ich toll. Mit meinem Taschengeld kaufte ich mir die Langspielplatte und hörte die erste Seite der Platte mindestens dreimal am Tag. Meine jüngere Schwester, mit der ich zu dieser Zeit in einem Zimmer wohnte, muss geglaubt haben, dass ihre ältere Schwester nun komplett übergeschnappt war. Tja, so war es wohl auch. Es war vor allem der Text, der es mir angetan hatte. Und so dachte ich als Sechzehnjährige über die Vergänglichkeit des Lebens nach, über Momente des Glücks und den Tod, der unverrückbar am Ende des Lebens wartete. Ich war in dieser Phase wohl nicht nur das hässliche Entlein, sondern auch eine frühe Existenzialistin, die einige Jahre später während meines Auslandsjahrs in Montpellier Texte von Jean Paul Sartre, Simone de Beauvoir und André Gide im französischen Original las. Ich war auf der Suche nach mir selbst und nach meinem Platz in der Welt. Ich suchte, zweifelte, sehnte mich nach irgendwem und irgendwas. So wurde das hässliche Entlein älter. Ich passte immer weniger in die Entenfamilie und ihre scheinbar heile Welt.

Studium

Nach meinem Abitur ging ich für ein Jahr zu Bekannten nach Kanada und studierte in Montreal zwei Semester Englisch und Französisch. Ich lernte viel über Sprachen, Kulturen und Fremdsein in einem anderen Land. Eine internationale Studierendengemeinde auf dem Campus wurde für mich zur Heimat in der Fremde. Die Erfahrungen dort ermutigten mich dazu, nach meiner Rückkehr nach Deutschland evangelische Theologie zu studieren. Nach sechs Semestern Studium in Heidelberg und Montpellier zog ich nach Hamburg. Dort passierten mir gleich zwei wichtige Dinge: Zum einen vermisste ich eine Studentin aus Frankreich. Und ich konnte irgendwann einfach nicht mehr leugnen, dass ich Liebeskummer hatte. Zum anderen sah ich erstmals in meinem Leben bewusst Frauen- und Männerpaare. An vielen Orten waren sie sichtbar: Lesben, Schwule, Bi*- und Trans*Leute. Sie hatten eigene Bars, Events und Parties. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war auch so eine!

Schockwellen und Erleichterung

Diese Erkenntnis löste in mir Schockwellen und Erleichterung zugleich aus. Schockwellen, weil es nicht so sein konnte. Ich hatte mit den schlimmen Sachen, die solche ‚Perverse‘ anstellen, doch nichts zu tun. Ich war zwar ein hässliches Entlein. Aber ‚pervers‘ war ich nicht. Und krank oder psycho war ich auch nicht. Und das waren doch alle Lesben und Schwule. Oder? So hatte ich es jedenfalls auf dem Schulhof gehört. Erleichtert war ich, weil es befreiend war. Ich sah Frauen mit Frauen und Männer mit Männern durch die Straßen gehen. Und sie sahen so gar nicht pervers oder krank aus. Wow! Das haute mich um. Nun hatte ich nur noch die Kleinigkeit vor mir, allen davon zu erzählen. Ich war gar kein hässliches Entlein, sondern ich war dabei, mich in einen kleinen grauen Schwan zu verwandeln.

Dreifaches Coming Out
Ich liebte Frauen, war gläubig und studierte auch noch Theologie. Auweia. Daraus wurde ein dreifaches Comingout. Vor Familie und Bekannten musste ich erklären, dass ich lesbisch und trotzdem immer noch ‚normal‘ bin. Wobei ich selbst immer weniger wusste, was ‚normal‘ eigentlich heißt. Vor meinen lesbischen und schwulen Freundinnen und Freunden aus der Szene musste ich mich als Christin outen. Und als Theologiestudentin. Das war nicht einfach. „Wie bitte?“, fragten einige nach.

„In so einem homofeindlichen Laden wie der Kirche willst du mal arbeiten? Wieso das den? Du bist doch sonst so aufgeweckt und klug.“

Ich blieb verletzt und verwirrt zurück. Es waren eben alles Teile von mir. Ich war also kein Schwan, sondern eher ein Entenschwan. Ich war gläubige Christin, lesbische Aktivistin und eine junge Frau, die fasziniert ihre ersten Beziehungen lebte und Sexualität für sich entdeckte. Ich passte in keine Schubladen, wollte da auch nicht rein und wehrte mich gegen Etikettierungen und Vorurteile.

Entenschwan

Als Entenschwan machte ich mich ganz gut. Die meisten um mich herum hatten sich nach einer Weile wieder beruhigt. Nur meine geliebte Oma sollte nichts von meinem Comingout wissen. Denn sie sei ja schon so alt, meinten einige Familienangehörige. Das hielt ich aber nicht lange aus. So atmete ich tief durch, gab ich mir einen Ruck und erzählte es ihr. Da holte meine Oma wortlos eine Flasche Sherry aus dem Schrank, schenkte zwei Gläser ein und prostete mir zu:

„Ich habe es schon lange geahnt, mein Kerstin.“ So nannte sie mich immer.
„Und ich bin froh, dass du mir davon erzählst. Du bist du. Und ich habe dich lieb. Egal wen du liebst und wie du lebst. Und wenn du denkst, dass ich in meinem Alter nicht weiß, was das ist, dann täuscht du dich. Früher habe ich mit dem Pferdewagen in der Minaralwasserfabrik meiner Eltern Brause- und Bierkästen in St. Pauli und auf der Reeperbahn ausgefahren. Da habe ich einige Frauen und Männer auf dem Kiez kennen gelernt, die ‚andersherum‘ waren. So nannten wir das damals. Eine Frau hat mir sogar Avancen gemacht. Und die Welt ist nicht untergegangen.“

Meine Oma ist vor sieben Jahren gestorben. Aber ich werde nie vergessen, wie liebevoll sie auf mein Comingout reagiert hat und wie dankbar sie war, dass ich zu ihr Vertrauen hatte. Seither bin ich zu einem recht stattlichen Entenschwan geworden. Ich bin immer noch auf dem Weg und gleichzeitig bei mir angekommen.