Auf der diesjährigen Lesbentagung vom 13.-15. Dezember 2019 an der Evangelischen Akademie in Bad Boll habe ich einen Vortrag gehalten.

Thema meines Vortrags war „Heimat im Niemandsland.  Lesbische und queere Frauen* in Religionsgemeinschaften und Kirchen auf der Suche nach Heimat.“ Nachfolgend drucke ich den Vortrag ab, den ich mündlich an manchen Stellen gekürzt hatte.

Was ist Heimat?
Dunya Hayali formulierte es in ihrem Buch Haymatland vom Frühjahr 2019 so:

„Heimat ist jener Ort, an dem man im Idealfall mental auftanken und die Seele baumeln lassen kann. Ein Ort, an dem es viel Vertrautes gibt, wenig Unerwartetes passiert und man nicht ständig aufpassen muss. Weil man nicht nur toleriert oder akzeptiert, sondern wirklich erwünscht und gewollt ist. Heimat ist ja keine Einbahnstraße, keine einseitig geschlossene Verlobung. Man beschließt nicht für sich, wo die eigene Heimat ist, man wird auch eingeladen und begrüßt. Übrigens auch vermisst und wiederaufgenommen im Falle einer Rückkehr oder nach langer Abwesenheit.“ (Dunya Hayali, Haymatland. Wie wollen wir zusammenleben? Berlin 2019, S. 30)

Angesichts von politischen, kulturellen und religiösen Umbrüchen und Abbrüchen ist die Suche nach Beheimatung wieder dringender geworden. Angst vor Extremismus, Terrorismus, Hass und Gewalt verstärken das Bedürfnis nach Sicherheit und Vertrauen, Vergewisserung und Solidarität. Heimat scheint ein neuer alter Sehnsuchtsort dafür zu sein.

Mit der Heimat ist das aber so eine Sache. Ist es der Ort, an dem man geboren ist?
Beschreibt Heimat also die geografische Herkunft, so wie es Saša Stanišić über seine Herkunft in Višegrad in Bosnien und Herzegowina geschrieben hat:

„Herkunft ist der erste Zufall in einer Biografie: irgendwo geboren werden.“ (Saša Stanišić, Herkunft, Berlin 2019)

So viel zur Herkunft. Die Heimatsuche geht dennoch weiter. Das ist nachvollziehbar, aber auch gefährlich.

Denn so genannte Heimatschützer an der Heimatfront haben den Begriff in einer Art und Weise wieder aufgeladen, wie es die Nationalsozialisten mit ihrer Blut-und-Boden-Ideologie getan hatten: „Deutschland den Deutschen! Alle Fremden und irgendwie Andersartigen raus!“ Der völkische und rechtspopulistische Heimatbegriff wurde damals zum ideologischen Bodensatz für die Vertreibung und Ermordung von Millionen von Menschen, die als so genannte Nichtarier unerwünscht waren. Er lieferte aber auch die Propaganda-Munition für die massive Expansionspolitik und den ‚totalen Angriffskrieg‘ der Nazis.

Heute wird der Heimatbegriff von Rechten benutzt, um weiße blonde Frauen und Babys vor einer angeblich schwarzen, dunkelhäutigen, nicht christlichen und nicht deutschsprechenden wilden Meute zu schützen. Von Heimat zu reden, ist und bleibt also ambivalent und schwierig. Was ist dann aber Heimat für all diejenigen, die den Begriff nicht nur Neonazis, Identitären und Rechtsextremisten überlassen wollen?

Heimat ist ein fluides Konstrukt, das man nicht festhalten kann, ein Prozess, ein verschlungenes Phänomen. Es sind bruchstückhafte Erinnerungen, Gerüche, Klänge und Gefühle aus alten Zeiten. Sie hallen wider aus ganz verschiedenen Orten, an denen ich gelebt habe, die mich geprägt haben und die mir bis heute wichtig sind. Es sind Resonanzorte, Herzensorte, Sehnsuchtsorte.

Heimat ist darüber hinaus weniger ein Ort als ein Gefühl von Zugehörigkeit, Sicherheit, Vertrauen und Anerkennung. Heimat ist keine Einbahnstraße, sondern ein wechselseitiger Prozess, der niemals fertig ist. Heimat ist nicht, Heimat kann nur werden. Beheimaten können sich Menschen dort, wo sie sicher sind, wo sie respektvoll miteinander umgehen und sich gegenseitig anerkennen, so wie sie sind. Heimat ist da, wo das Herz ist, also immer auf dem Weg.

Heimatbegriff in der Bibel
Auf der Suche nach Spuren in der Bibel zum Thema Heimat hilft im Alten Testament das Buch Ruth weiter. Die Ereignisse trugen sich etwa 1100 vor Christus in Israel zu.
Das jüdische Ehepaar Elimelech und Naomi war mit ihren Söhnen von Bethlehem in Israel über den Grenzfluss Jordan ins nordöstlich gelegene Land Moab geflohen. Dürre und Hungernot zwangen sie und viele andere dazu, so wie es heute noch Hunderttausende auf der ganzen Welt zur Flucht treibt. In Moab konnten sie sich niederlassen, und die beiden Söhne heirateten Ruth und Oprah, zwei Frauen aus Moab. Allerdings starben sowohl Elimelech als auch die beiden Söhne in den nächsten Jahren. Dann kamen Dürre und Hungersnot nach Moab, und Naomi entschied sich als Witwe in ihr Heimat Bethlehem zurückzukehren. Ihre beiden Schwiegertöchter sollten zurückbleiben und neue Ehemänner finden. Die eine, Oprah, verabschiedete sich. Aber Ruth, die andere Schwiegertochter, ging mit Naomi in deren Heimatland. Was sie sagte, ist wörtlich im Buch Ruth 1,16 überliefert:

„Überrede mich nicht, dich zu verlassen. Ich will mit dir gehen. Wo du hingehst, will ich auch hingehen, und wo du lebst, will ich auch leben. Dein Volk wird mein Volk sein und dein Gott wird mein Gott sein. Wo du stirbst, will ich auch sterben, und dort will ich begraben werden. Gott tue mir dies und das, nur der Tod wird mich von dir scheiden.“ (Ruth 1,16)

Aus Loyalität und Liebe zu ihrer Schwiegermutter entschied sich Ruth alles aufzugeben, so wie das Geflüchtete auch heute noch jeden Tag tun. Sie ließ alles hinter sich. Ihr Heimatland, ihr Volk und sogar ihren Gott. Dort, wo Naomi begraben werden sollte, wollte sie auch begraben werden. Naomis Heimat sollte auch zu Ruths Heimat werden. Die Liebe zwischen diesen beiden Frauen war so stark, dass sie sogar in der Bibel festgehalten wurde. Die eine wurde für die andere zur Heimat in einer von Männern dominierten Welt, in der allein stehende Frauen vogelfrei und gefährdet waren.

Bis heute ist der Vers einer der meist genutzten Trauverse für heterosexuelle Paare, ohne dass sie in der Regel wissen, dass diese Worte von einer Frau zu einer anderen gesprochen wurden.
Es ist ein biblisches Beispiel dafür, dass Menschen in der Nähe einer geliebten Person Heimat finden können, dass Frauen füreinander Heimat werden – auch in der Bibel. Trotz aller Widrigkeiten und Herausforderungen.
Darüber hinaus lassen sich in der Bibel unzählige Geschichten von Aufbrüchen, Wanderungen, von Exodus, Flucht und Exil, Verschleppungen, Zerstörungen und Neuanfängen finden. In der Bibel sind daher auch Heimatbegriffe vielfältig und ständig in Bewegung.

In der Adventszeit erinnern wir uns, dass die schwangere Maria und ihr Mann Josef auf dem Weg von Nazareth nach Bethlehem waren. Dort kam Josefs Familie her. Sie sollten aufgrund einer römischen Volkszählung unter dem Statthalter Quirinius in ihrem Herkunftsort gezählt werden. Aber Bethlehem empfing sie ohne Freude und ohne Gastfreundschaft. Bethlehem war für sie keine Heimat mehr. Sie hatten kein Dach überm Kopf und mussten in einem Stall übernachten. Dort brachte Maria ihren Sohn Jesus zur Welt. Aber es war kein sicherer Ort. Denn Herodes, der König der Juden, ließ nach dem Jesuskind suchen. Er hatte Angst vor der Macht und Autorität von Jesus, von der die drei Weisen aus dem Osten auf der Durchreise in Jerusalem berichtet hatten. Er ließ daher alle neu geborenen Jungen von seinen Soldaten ermorden. Maria, Jesus und Josef flohen vor den Soldaten auf einem Esel nach Ägypten. Heimat war für sie weder Nazareth noch Bethlehem noch Ägypten. Zur Heimat wurden sie sich gegenseitig und alle diejenigen, die ihnen halfen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit unterwegs.

Als Jesus ein junger Mann geworden war, verleugnete er im Tempel seine Herkunftsfamilie und wimmelte sie ab. Stattdessen erklärte er diejenigen, die ihm bedingungslos nachfolgten, zu seiner Familie. Heimat war für ihn nicht an einen Ort gebunden. Heimat war für ihn – wie damals auf der Flucht – unterwegs sein. Er war ein Wanderprediger. Er ging mit anderen zusammen von Dorf zu Dorf zu den Menschen, die für seine Worte offen waren, die sich berühren ließen, die nach Halt und Sinn suchten und sich innerlich neu beheimaten wollten. Heimat bedeutete für ihn, Weisungen und Orientierung in Gott zu finden. Glaube an Gott, Nächstenliebe und Selbstliebe, wie er es im Doppelgebot der Liebe zusammengefasst hatte, waren sein Kompass. Nicht mehr, nicht weniger. Und heute?

Wahlheimaten
1986 war ich als junge Studentin der Theologie das erste Mal auf einer Lesbentagung in Bad Boll. Ich fand jüngere und ältere Frauen, gesunde, kranke, innerhalb und außerhalb der Kirchen, akademische und nichtakademisch Interessierte, Lesben, Bi*, Trans*Frauen, Verheiratete, Geschiedene, Allein lebende, mit und ohne Kinder, Drag Kings und Schamaninnen, solche mit und ohne Bedürfnis nach feministischer Analyse und Identitätskategorien. Sie alle suchten nach einem Ort, an dem frauenbezogene Spiritualität, lesbisch-feministische Theologie und ihre Liebes- und Lebensformen ohne Zensur und Angst gelebt werden konnten. Die Lesbentagungen in Bad Boll wurden für viele zu so einem Ort.

Ich bin mittlerweile schon über zwanzig Mal in Bad Boll gewesen, sechs oder sieben Tagungen habe ich im ehrenamtlichen Team mit vorbereitet, habe Vorträge gehalten, zahlreiche Workshops in queerer Bibellektüre angeboten und mit euch zusammen queere Spuren entdeckt. Wir haben diskutiert, gearbeitet, getanzt, geweint, geschwiegen und gelacht, kirchenpolitische Strategien ausgeheckt und Gottesdienste gefeiert. Netzwerke sind entstanden, Frauen-Lesbenzentren und Regenbogenzentren auf Kirchentagen wurden angedacht und vorbereitet, queere Gottesdienste geplant. Die Lesbentagungen in Bad Boll sind für mich über die Jahrzehnte zu einer zeitlich begrenzten Wahlheimat geworden. Hier muss ich mich nicht rechtfertigen. Weder dafür, dass ich Pfarrerin und gläubig bin noch dafür, dass ich lesbisch bin und mit einer Frau zusammenlebe. Hier kann ich so sein wie ich bin. Wahlheimat als Schutz- und Solidaritätsraum.

Seit 1996 besuche ich darüber hinaus einmal im Jahr die Jahrestagungen des Europäischen Forums für christliche Lesben-, Schwulen-, Bi*- und Trans*-Gruppen. Die Delegierten und Interessierten aus allen europäischen Ländern treffen sich einmal im Jahr in einer europäischen Stadt. Ich treffe dort meine europäische Familie wieder. Wir organisieren Vorträge, Workshops, feiern Gottesdienste, Partys und sind einfach glücklich, dass wir uns kennen und regelmäßig wiedersehen. In den letzten zehn Jahren wurden außerdem Leadership-Trainings und Mentoringprogramme für queere Aktivist*innen aus Zentral- und Osteuropa und Asien entwickelt und durchgeführt, um sie dabei zu unterstützen, sichere und regenbogenfreundliche Schutzorte für religiös interessierte und queere Menschen in ihren Heimatländern anzubieten.

Ich war ebenfalls schon über zwanzig Mal dabei und bin jedes Mal berührt und glücklich über meine europäische Wahlfamilie, obwohl mittlerweile schon einige gestorben sind, andere krank oder alt geworden sind und viele sich mit homo- und trans*feindlichen Verhältnissen in ihren Ländern herumschlagen müssen. Die Energie ist da, wenn wir uns sehen. Bei aller Trauer, bei allem Schmerz und aller Verzweiflung, die immer auch im Raum sind, wenn wir uns begegnen. Wer mich fragt, was Heimat für mich ist, dann sage ich:

„Diese Menschen aus ganz Europa gehören für mich zu meiner Heimat dazu. Jedes Jahr finden wir uns neu zusammen, immer woanders, immer in anderer Verfassung. Und genau das ist Heimat: Ich begegne geliebten Menschen aus ganz Europa und darüber hinaus, die mich so akzeptieren, wie ich bin. Gemeinsam gestalten wir für eine begrenzte Zeit einen sicheren Ort, einen ‚safe space‘. Wir lachen miteinander, weinen, wir trösten uns, hören unseren Geschichten und Erlebnissen zu, diskutieren und arbeiten in Workshops zusammen, wir feiern Gottesdienste und Partys und planen Solidaritätsaktionen mit Beteiligten aus Ländern vor allem in Osteuropa, in denen sie kriminalisiert werden und in denen ihnen ihr Glaube abgesprochen wird, weil sie queer sind. Heimat kann ich mit diesen Menschen spüren. Es ist meine Wahlheimat mit meiner Wahlfamilie. Was ich mit ihnen teile: Zugewandtheit, Humor, Wärme, Unterstützung, Teilhabe, Anerkennung und Solidarität. Das ist Heimat für mich; immer wieder anders, immer wieder neu, mobil und dennoch verlässlich, loyal, solidarisch, fürsorglich und voller Liebe für unsere Unterschiede, unsere Macken, Fehler und Kämpfe. Es sind Wahlheimaten im Plural.“

Heimatverlust
Dieser Heimatbegriff als Prozess im Werden und im Plural ist mir wichtig. Denn ich kenne auch die Rückseite von rigiden Heimat-Konstruktionen: Denjenigen, die irgendwie anders sind, wird ihre Heimat oft abgesprochen. Geflüchtete, Menschen mit Migrationshintergrund, Schwarze, Lesben, Schwule, bi*, trans* und queere Menschen, Juden und Jüdinnen, muslimische Menschen, Gläubige oder Nichtgläubige, sie alle kennen die Sätze. Und sie tun immer wieder weh:

„Ihr gehört nicht dazu, ihr seid hier nicht willkommen, geht zurück dahin, woher ihr gekommen seid. Ihr seid keine von uns. Ihr habt hier keine Heimat!“

Das ist brutal, das ist schmerzhaft. Das macht mich wütend. Denn wer bestimmt bitte schön, wo und was Heimat ist? Eine brüllende Minderheit von Rassisten, Antisemiten, frauen-, homo- und trans*feindlichen Machos? Eine bräsige bürgerliche Mitte, die schweigt, wenn rassistische oder homo-feindliche Übergriffe geschehen, weil sie selbst nicht betroffen sind? Wo bleibt die Zivilcourage, die nötig ist, um Heimat als fragiles und empfindliches Gebilde und als alltägliches Geschehen zu schützen? Wo sind die selbsternannten Heimatschützer, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden und queere Menschen mit Hilfe biblischer Texte und wörtlicher Bibelauslegungen als sündig, pervers und von Gott verdammt bezeichnet werden? Religiöse Hassrede als Rausschmeißer ins Niemandsland.

In kirchlichen Kreisen kann ich den Heimatverlust genau beschreiben: Lesben, Schwulen, bi*, trans* und queere Menschen wird erzählt, dass sie nicht gleichzeitig queer und gläubig sein können. Ihnen wird erklärt, dass Gott Homosexualität als Sünde verdammt und homosexuelle Taten vom Teufel seien. Viele gläubige queere Menschen haben auf diese Art und Weise ihre christliche Heimat verloren.

Sie sind rausgeflogen sind, weil sie es wagten anders zu sein. Nicht wenige wurden verteufelt, beleidigt oder ausgeschlossen, einige wurden sogar zwangstherapiert oder durch sogenannte ‚Homo-Heiler‘ traumatisiert. Heimatverlust, Verunsicherung und psychische Schädigungen waren oftmals die Folge. Sie landeten vogelfrei im Niemandsland. Bis heute hat sich in den evangelischen Landeskirchen viel verändert. Es gibt mittlerweile offen queer lebende Geistliche, Respekt und Gastfreundschaft in zahlreichen Gemeinden und kirchliche Segnungen oder Trauungen für alle in den meisten Landeskirchen. Aber die Erlebnisse gehören zu unserer Geschichte und teilweise zu unserer Gegenwart dazu.

Aber auch im säkularen Umfeld ist es nicht einfach.

„Was? du bist gläubig und gehst in Gottesdienste? Wie kommt das denn? Du bist doch so klug und vernünftig?“

Oder:

„Wie kannst du nur in einen solchen homo-feindlichen Laden gehen und arbeiten? Bist du verrückt oder masochistisch oder beides?“

Lesbisch, bi*, trans*, queer zu leben und religiös interessiert oder gar gläubig zu sein, scheint sich für viele bis heute auszuschließen. Entweder – oder, schwarz oder weiß, für mich oder gegen mich, so sieht´s aus. Dabei ist die Thematik viel komplexer, viel verwobener und verstrickter.

Weltweit sind insbesondere im globalen Süden Hunderttausende von Menschen lesbisch, schwul, bi*, trans*, queer und religiös. Das wird zu oft vor allem im globalen Norden außer acht gelassen. Dadurch werden religiöse LGBTIQ erneut nicht als Subjekte ihrer Lebensgeschichten respektiert, sondern selbst von anderen queeren Geschwistern als verblendet, uninteressant oder verrückt erklärt und sich selbst überlassen. Das geht auf Kosten derjenigen, die sich innerhalb religiöser Gemeinschaften für Gleichberechtigung von LGBTIQ einsetzten, weil sie weniger Unterstützung von säkularen Regenbogen-Organisationen erhalten oder von ihnen gar nicht erst wahrgenommen werden. Sie bleiben ohne Unterstützung und finden Heimat nur unter sich im Niemandsland.

Was zudem unterschätzt wird: Wenn alle queeren Menschen christliche Kirchen und andere religiöse Gemeinschaften verlassen würden, würden sie denen komplett das Feld überlassen, die das Thema Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierungen entweder überhaupt nicht interessiert oder die eine durchgehend homo- und trans*feindliche Agenda haben. Es sind vor allem Menschen in rechtspopulistischen, konservativ evangelikalen und pfingstlerischen Kreisen in Europa, Nordamerika und zunehmend auch in Lateinamerika, Asien und Afrika. Sie missionieren aggressiv und richten sich mit ihren Hasspredigten gegen sexuelle und andere Minderheiten. Sie werden nicht gestoppt, wenn sie nicht von innen und von außen Widerstand bekommen. Von innen kommt keine Unterstützung ohne das Engagement derjenigen, die selbst betroffen sind, die sich als religiös bezeichnen und eine theologische Sprache sprechen. Denn für Lesben, Schwule, Bi*, Trans* und queere Menschen setzen sich andere nach meiner Erfahrung nur dann ein, wenn sie zunächst einmal Gesicht zeigen, für sich selbst einstehen und gezielt nach heterosexuellen Unterstützer*innen suchen. So war es auch hier in Bad Boll. Ohne die Arbeit von Herta Leistner und Monika Barz, Irmgard Ehlers und vielen anderen offen lesbischen Frauen wäre es nicht möglich gewesen, die Lesbentagungen hier in Bad Boll zu initiieren und bis heute erfolgreich hier zu halten.

Minderheit in der Minderheit
Als ich 2006 das erste Mal auf einem ILGA World Treffen in Genf war, hieß es von vielen: „Wer LGBTIQ* ist und etwas mit Kirche zu tun hat, schläft mit dem Feind. Damit haben wir nichts zu tun!“
Dennoch fanden wir uns in einem kleinen Kreis interreligiös zusammen und tauschten uns über LGBTIQ* Themen in Religionsgemeinschaften aus. Wir feierten interreligiöse und queere Friedensgebete und fingen an uns zu verbünden. Heute werden bei ILGA Konferenzen häufiger religiöse Regenbogen-Vorkonferenzen durchgeführt, die die spezifischen Herausforderungen zwischen Religionsfreiheit und Schutz der Menschenrechte von LGBTIQ* Menschen bearbeiten. Aber es bleibt schwierig, die Themen auch in die Hauptkonferenzen mitzunehmen.

Ein letztes Beispiel: Seit einigen Monaten gibt es ein juristisches Verfahren gegen einen katholischen Priester, Szymon Niemiec und Mariusz Wrzesinski, einen Diakon in Polen. Die beiden haben schon seit einigen Jahren die CSD Gottesdienste vor den Pride Paraden mit der queeren Commmunity in Warschau gefeiert. In diesem Jahr wurden sie angeklagt, aufgrund des CSD Gottesdienstes „religiöse Gefühle von Gläubigen verletzt zu haben“. Die Anklage ist einem Gericht in Warschau zugegangen. Zurzeit wird gerade gerichtlich geprüft, ob die beiden entweder ins Gefängnis oder in eine Psychiatrie eingeliefert werden sollten.
Der Vorstand des Europäischen Forums hat daraufhin einen Brief an den Staatsanwalt in Warschau geschrieben, weiterhin an den Council of Europe, das Niederländische Außenministerium und an sechs britische Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Daraufhin haben 39 Abgeordnete aus verschiedenen Europäischen Ländern einen Protestbrief nach Polen geschickt. Bisher ohne Reaktion.

Gleichzeitig hat das Europäische Forum auch queere Mitarbeitende von ILGA Europe auf den Fall angesetzt. Die zögern bisher allerdings nach Auskunft unseres Vorstands, sich in die Angelegenheit einzumischen, da es sich um ein religiöses Thema handelt. Der schwule Priester Szymon Niemiec kommentierte das so:

„Ich habe das schon häufiger erlebt. Wir sind eine Minderheit in der Minderheit Wir werden von säkularen LGBTIQ nicht unterstützt. Wir bleiben queer und religiös im Niemandsland.“

Wahlheimaten als Aufgabe
Sichere Orte, ’safe space‘, Respekt, Vertrauen, Zugehörigkeit, Anerkennung, Vertrauen und Solidarität sind Zeichen von Wahlheimaten im Niemandsland. Das Europäische Forum christlicher LGBT-Gruppen, die Lesbentagungen in Bad Boll und andere Regenbogen-Netzwerke und Gruppen sind wichtige Wahlheimaten, manchmal mit festen Treffpunkten wie hier in Bad Boll, manchmal eher eine Begegnung, ein Gespräch, eine Umarmung, ein Regenbogen-Gottesdienst, eine Solidaritätsaktion. Oft sind sie existenziell überlebensnotwendig. Sie müssen geschützt und gepflegt werden. Denn Heimat ist für queere und religiöse Menschen ein fragiler Prozess, nicht selbstverständlich und niemals einfach so da. Diese Aufgabe geht uns alle an. Viele sind bereits aktiv und gestalten solche sicheren Orte mit.

Wichtig ist, dass auch kirchliche Gruppen und Gemeinden zu engagierten ‚Heimatakteuren‘ in diesem Sinne werden. Kirchliche Akteure können Kirchenasyl und Schutzräume, Begegnungsräume und Lernräume anbieten, so wie viele das bereits tun. Dass diese Orte auch queerfreundlich sind, dafür müssen sich alle Beteiligten einsetzen.

 

Zum Weiterlesen

Kerstin Söderblom, Herkunft. Eine Rezension (27.10.2019)

Kerstin Söderblom, Zuhause. Eine Rezension (25.10.2019)