Das Buch erzählt von einem Dorf in einem Land, das es nicht mehr gibt. In dem Dorf Oskoruša leben zur Erzählzeit noch 13 Menschen. Die Familie des Autors kommt daher. Damit ist seine Herkunft aber nur scheinbar geklärt.

 „… und das war der Augenblick, da Gavrilo mich fragte, woher ich käme. Also doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los: Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.“ (Saša Stanišić, Herkunft, S. 32 f.)

Das Buch Herkunft handelt von einer Familie, die seit dem Bürgerkrieg in Jugoslawien in verschiedenen Ländern Europas und in den USA lebt und nirgendwo wirklich beheimatet ist. Der Autor Saša Stanišić erzählt von vielen Heimaten zwischen den Flüssen Neckar und Drina, zwischen jugoslawischen Landschaften und einer ARAL Tankstelle am Rande von Heidelberg, zwischen Roter Stern Belgrad und dem Hamburger Sportverein, zwischen Geschichten und Legenden. Aber eins scheint gewiss: Er hat nur eine Herkunft. Durch späte Besuche und Erinnerungen der Familienmitglieder, durch Erfindungen und Weglassungen, durch Mythen und Recherchen versucht er sie zu rekonstruieren.

In der autobiografischen Collage schreibt der Autor Erinnerungen an die alte Heimat der Familie auf, während seine demente Großmutter ihre Erinnerungen verliert.

Was der Autor bei dem Unternehmen erkennt:

„Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. Sie ist die Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert hat.“ (S. 67)

Und: Herkunft ist Krieg. So war es jedenfalls für die Familie des Autors. Der Vater kam aus einer serbischen, die Mutter aus einer bosnisch-muslimischen Familie. Sie mussten im August 1992 aus ihrer Heimat, dem auseinander reißenden Vielvölkerstaat Jugoslawien, fliehen. Schon kurz danach wurden muslimische Frauen in Višegrad vergewaltigt. Viele wurden ermordet. Die Familie hat überlebt, aber sie hat Narben davongetragen. Als komplette Familie haben sie danach nie wieder irgendwo zusammengelebt.

Saša Stanišić erzählt von seinem Versuch, als Vierzehnjähriger in einem fremden Land eine fremde Sprache zu lernen und sich in einer fremden Umgebung mit unbekannten Regeln zurecht zu finden. Er erzählt von seiner Scham, die fremde Sprache nicht gleich fließend sprechen zu können und von den erfundenen und erlebten Heldengeschichten, die er und seine Außenseiterkumpels sich an der ARAL Tankstelle in der tristen Beton-Peripherie Heidelbergs erzählt haben. Diese Geschichten waren existenziell wichtig für diejenigen, die sie erzählt und diejenigen, die ihnen zugehört haben. Die Geschichten wurden zu ihrem gemeinsamen Schatz, obwohl sie aus ganz verschiedenen Ländern und Kulturen kamen. Aber sie teilten ein gemeinsames Schicksal: Sie kamen von woanders her und gehörten nicht zur Mehrheitsgesellschaft dazu.

Auf verschiedenen Zeitebenen berichtet der Autor in fragmentarischen Notizen davon, wie er in einem fremden Land erwachsen wird und dort irgendwie auch ankommt. Seine Heimat findet er in der Sprache, besser: in verschiedenen Sprachen. Vielschichtig, komplex und bruchstückhaft versucht der Autor sich dem Geheimnis von Herkunft und Zuhause zu nähern. Es bleibt bei der Annäherung.

Lesenswert ist das Buch gerade deswegen!

 

Zum Weiterlesen

Saša Stanišić, Herkunft, Luchterhand Literaturverlag 2019, 5. Aufl.