Es gibt viele Vorurteile zu Judas Ischariot. Die jüdische Sicht auf Judas ist in vielerlei Hinsicht allerdings ganz anders als die christliche. Warum erkläre ich hier.

Gerade habe ich das Buch von Amos Oz „Judas“ fertig gelesen. Zunächst einmal: Das Buch ist absolut lesenswert! Es hat mir noch einmal ganz andere Einsichten zu Judas Ischariot eröffnet, als ich sie in meinem ersten Blogeintrag zu Judas notiert habe. Es ist der Blick auf Judas aus einer jüdischen Sicht.

Aus jüdischer Sicht sehen die Dinge anders aus als aus christlicher. Soweit so banal. Amos Oz verdeutlicht es in seinem Buch mit Hilfe des jüdischen Studenten Schmuel Asch. Der 25-jährige Student forscht für seine Magisterarbeit über Jesus von Nazareth und über Judas aus jüdischer Sicht. Und dann unterbricht er seine Forschungen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Über Judas findet Schmuel Asch in seinen Recherchen im Buch Folgendes heraus: Lange Zeit haben sich jüdische Gelehrte kaum mit der Figur des Judas beschäftigt. Denn er galt aus christlicher Sicht als der Inbegriff eines Verräters. Nein, er galt als der Inbegriff eines jüdischen Verräters. Im Laufe der Jahrhunderte wurde aus der Figur des Judas die Figur des Juden an sich: Ein feiger Verräter, der für Geld Jesus verraten hat und damit Jesu Kreuzigung und Tod allein zu verantworten hatte. Genauso wie Judas waren aus christlicher Perspektive daher alle Jüdinnen und Juden schuld an Jesu Tod. Der christliche Antijudaismus hatte eine seiner zentralen Argumentationsfiguren gefunden.

An dieser Argumentationsfigur wollten jüdische Gelehrte möglichst wenig erinnern oder gar rütteln, so zumindest die These des Schmuel Asch im Buch von Amos Oz. Zu tief schien sie im kollektiven christlichen Gedächtnis abgespeichert zu sein. Also lieber nicht anrühren und das Thema sein lassen. Die Folge: jüdische Gelehrte haben die Figur des Judas sich selbst überlassen. Oder schlimmer noch: sie haben sie dem christlichen Antijudaismus überlassen.

Das war fatal. Denn, so Schmuel Asch in Amos Oz Buch, Judas war eigentlich der leidenschaftlichste und der gläubigste aller Jünger. Er war derjenige, der überzeugt war, dass Jesus die Kreuzigung überleben und es allen zeigen würde. Er war überzeugt, dass die Kreuzigung nötig sei, um endlich alle Kritiker und Zweiflerinnen mundtot zu machen. Deshalb war Judas auch der einzige Jünger, der während der Kreuzigung in Sichtnähe des Kreuzes blieb. Die ganz Zeit. Er wartete auf den Augenblick von Jesu wundersamer Errettung. Als die nicht kam und Jesus starb, war Judas am Boden zerstört. Sein Glauben war zerschmettert, seine Überzeugungen blieben leer und hohl zurück. Ja, er fühlte sich schuldig, dass er Jesus überredet hatte nach Jerusalem zu gehen, dass er ihn den Soldaten ausgeliefert hatte. Denn er wollte, dass es Jesus allen zeigt.

Der Verrat war eigentlich gar kein Verrat, so Schmuel Asch weiter in dem Buch. Jesus war längst allen Bewohnern der Stadt bekannt. Es kannten ihn genug Menschen, um ihn zu identifizieren und an die Soldaten auszuliefern. Und das Silber brauchte Judas auch nicht. Er war schließlich der gebildete und wohlhabende Mann aus Jerusalem, während die anderen Jünger nur arme Fischer waren.

Laut Schmuel und Amos Oz ging es Judas weder um Geld noch um Verrat. Es ging ihm um den Beweis,dass Jesus tatsächlich der von Gott gesandte Messias war und daher natürlich die Kreuzigung überleben würde. Dass der Messias zugleich auch eine andere Welt ohne römische Vorherrschaft und gesellschaftliches Unrecht einsetzen würde, war für ihn selbstverständlicher Bestandteil der Entwicklung. Judas hoffte auf politische und soziale Veränderungen. Er hoffte auf eine andere Wirklichkeit, auf Frieden und Gerechtigkeit, wie es Jesus in seinen Reich-Gottes-Gleichnissen immer wieder angekündigt hatte.

All dieses hatte Judas beflügelt. Er war begeistert, hoch motiviert und loyal gegenüber Jesus. Viel stärker als Petrus und die anderen, die Jesus verleugnet hatten und im entscheidenden Augenblick vorgaben, ihn nicht zu kennen. Das konnte Judas nicht passieren. Er hielt zu Jesus. Denn er war überzeugt, dass sich alles zum Guten wenden würde.

Als das nicht eintrat, war Judas Lebenssinn erloschen. Alles, woran er geglaubt hatte, war zerstört. Die Hoffnung auf Jesu Auferstehung besaß er nicht. Wie auch. Das überstieg alle Vorstellungen. Er begann Selbstmord als tief enttäuschter Anhänger Jesu.

Aus meiner Sicht, lohnt es sich, sich mit der Figur des Judas näher zu beschäftigen. Die Figur ist schillernd und ambivalent. Sie erscheint unterschiedlich, je nachdem aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Einfache Antworten gibt es nicht. Schon deshalb ist es notwendig genauer hinzuschauen.