2.04.2019

Besuch

Von letzten Freitag bis heute hatte ich Besuch von Julie aus Russland. Wir haben gemeinsam die Tagung des ökumenischen Lesbennetzwerks Labrystheia in Soest besucht und über die Situation von christlichen bzw. religiösen LGBTIQ in Russland diskutiert.

Julie lebt in Moskau mit ihrer Partnerin zusammen. Sie ist Englischlehrerin, leitet einen LGBTIQ English Club und ist Mitglied in einer freien christlichen LGBTIQ Gemeinschaft. Die Gruppe heißt auf englisch „Light of the World“.

Julie und ich kennen uns seit Februar 2018. Wir trafen uns beim Kickoff-Wochenende des Mentoring-Programms des European Forum of LGBT Christian Groups in Tiflis in Georgien. Es war ein intensives und berührendes Wochenende. Zehn Mentoring-Tandems haben sich dort gebildet. Julie und ich sind eines davon. Ich habe von unserem Mentoring-Programm bereits letzten Monat berichtet. Wir hatten uns zum Bergfest in Warschau getroffen und die bisherige Zeit des- Mentoring-Programms ausgewertet.

Für mich war es letzte Woche eine große Freude, Julie in Köln vom Flughafen abzuholen. Mit unseren Rucksäcken bepackt sind wir direkt nach Soest weiter gefahren. Dort haben wir die Tagung des ökumenischen Lesbennetzwerks Labrystheia besucht. In den gastfreundlichen Räumen der Evangelischen Frauenhilfe von Westfalen hatten wir viel Zeit für persönliche Gespräche. Am Samstag morgen haben wir eine ausführliche Präsentation von Julie über die Situation von christlichen LGBTIQ in Russland und über ihre persönlichen Erfahrungen in Russland gehört und darüber diskutiert. Darüber hinaus hatten wir genügend Zeit, um in Soest durch die Altstadt zu spazieren, bei Sonnenschein Eis zu essen und über alles Mögliche zu reden.

Neben Julies Präsentation haben meine Kollegin Monika Bertram und ich vom Mentoring-Projekt berichtet. Monika arbeitet mit einer polnischen Mentee zusammen. Sie erzählte von ihren Erfahrungen bei ihrem Besuch in Warschau letztes Jahr. Während der Zeit hat sie auch an Exerzitien-Tagen der polnischen LGBTIQ Gruppe „Faith and Rainbow“ teilgenommen.

Sowohl während der Tage in Soest als auch während des ganzen Mentoring-Programms habe ich viel gelernt. Was für mich am wichtigsten war und ist: Weder in Polen noch in Russland ist die Situation für LGBTIQ ausschließlich prekär und gefährlich. Vor allem in den Großstädten Warschau, Moskau und St. Petersburg sind Aktivist*innen und ihre Freund*innen trotz aller staatlichen, rechtlichen und religiösen Hürden kreativ, gewitzt und gut digital vernetzt.

Online und offline gestalten sie Freiräume und geschützte Räume, um sich gegenseitig zu unterstützen, inhaltlich zusammenzuarbeiten und gemeinsam Feste und überkonfessionelle Gottesdienste zu feiern. Es gibt viele Freiwillige. Und die Arbeit wird fast ausschließlich ehrenamtlich und von Lai*innen verantwortet. Die Qualität der Aktivitäten beeindruckt mich daher umso mehr.

Insofern habe ich von meinen Besuchen in Georgien, Polen und Russland in den letzten 1,5 Jahren enorm profitiert. Ich als Mentorin im Mentoring-Programm habe in der Zeit mindestens genauso viel gelernt wie Julie aus Moskau und die anderen Mentees aus Russland, Polen, Kroatien und Armenien.

Es bleibt aber der bittere Beigeschmack, dass Julie und die anderen Mentees aus Osteuropa in ihren Heimatländern weiterhin rechtliche, kulturelle und soziale Diskriminierung und Ausgrenzung erleben. Hinzu kommt die homo- und transfeindliche Haltung der meisten der dortigen religiösen Gemeinschaften und Kirchen. Viele gläubige LGBTIQ leiden darunter, dass sie in religiösen Kreisen nicht anerkannt werden und dass sie sich offiziell zwischen ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Geschlechtsidentität und ihrem Glauben Seite entscheiden müssen.
Es scheint an vielen Stellen fast unmöglich, diese verschiedenen Bereiche der eigenen Persönlichkeit zusammen denken und leben zu können.

Es bleibt also noch viel zu tun. Das aktuelle Mentoring-Programm wird Ende Juni 2019 auf der Jahrestagung des Europäischen Forums in London beendet werden. Ich hoffe, es wird finanziell, personell und inhaltlich gelingen, bald einen neuen Durchgang zu starten. Der Bedarf ist da.