14.04.2019

Palmsonntag

Zurzeit bin ich auf der Insel Juist zur Verstärkung der Pastorin während der Karwoche und der Ostertage.

An Palmsonntag habe ich meinen ersten Gottesdienst in der Inselkirche gehalten. Hier die Predigt:

Im Predigttext von Palmsonntag begegnet den Leser*innen eine Stimme aus der Geschichte des jüdischen und des christlichen Glaubens. Sie erzählt von krassen Gegensätzen, von Offenheit und Härte, von Hoffnung und Leid, von Leben und Tod

Jesaja im 50. Kapitel, Verse 4-9

4 Gott hat mir eine Zunge gegeben wie den Lernenden,

damit ich es verstehe, die Müden mit einem Wort zu stärken.

Gott weckt mir jeden Morgen das Ohr, damit ich höre wie die Lernenden.

5 Gott, hat mir das Ohr geöffnet,

und ich sträube mich nicht. Ich weiche nicht zurück.

6 Meinen Rücken gab ich denen, die schlagen,

meine Wangen denen, die prügeln.

Mein Gesicht habe ich nicht verborgen vor Schmähworten und Spott.

7 Aber Gott hilft mir,

darum werde ich nicht beschämt,

darum mache ich mein Gesicht hart wie einen Kieselstein

und weiß, dass ich nicht zuschanden werde.

8 Nahe ist mir Gott, der mich gerecht macht!

Wer will mit mir streiten? Lasst uns miteinander vortreten!

Wer will mein Recht beugen? Sie sollen nur kommen!

9 Schaut, Gott hilft mir.

Wer will mich verurteilen?

Schaut, sie alle zerfallen wie ein Kleid, von Motten zerfressen.

(Das Buch Jesaja 50,4-9 BigS 2011)

Die Stimme im Predigttext hat schmerzhafte und dramatische Erfahrungen gemacht. Aber auch positive und hoffnungsvolle. Die Gegensätze des Lebens werden eindrücklich beschrieben.

Der Predigttext erzählt von offenen Ohren und Mündern, damit Gottes Wort gehört, weitergegeben und gelernt werden kann. Der Text erzählt aber auch von krasser Gewalt, von Prügeln, Schmähworten und Häme. Als Reaktion darauf werden das Gesicht und der Körper des Betroffenen hart wie Stein, wie Kieselstein.

Er schützt sich. Gleichzeitig ist er sich sicher: Gott ist bei ihm. Gott wird ihm helfen, ihn zu trösten und ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Die Gegensätze des Lebens zwischen Offenheit und Härte, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Verletzlichkeit und Gewalt muss er trotzdem aushalten. Diese zwiespältigen Erfahrungen nimmt ihm niemand ab.

Wessen Stimme in diesem Text zu hören ist, ist in der langen Auslegungsgeschichte des Textes umstritten. Und auch die Deutung des Textes war und ist eine kontroverse Angelegenheit:

Im biblischen Zusammenhang werden die Verse zunächst als Lied eines Propheten vorgestellt. Dieser Prophet trägt auf Hebräisch den Namen „Gott ist Rettung“: Jesaja.

Viele nehmen an, dass Jesaja in den Versen sein ganz persönliches Schicksal als Gesandter Gottes beleuchtet hat. Die Botschaft, die er weiterzugeben hatte, war nicht bequem. Jesaja hatte Feinde. Aber er blieb standhaft und hatte Zivilcourage Seine Berufung hat er nicht abgelegt. Er hat selbstgerechte Könige und korrupte Bedienstete am Königshof kritisiert. Darüber hinaus ermahnte er das Volk Israel immer wieder umzukehren, an Gott zu glauben und respektvoll untereinander zu leben. Seine kritischen Worte gefielen nicht allen. Deshalb wurde Jesaja oft verspottet und verfolgt. Es ist also gut möglich, dass er seine eigenen Leidenserfahrungen in den Versen verarbeitet hat. Erfahrungen der Offenheit gegenüber Gottes Wort und der brutalen Gewalt, die gegen ihn gerichtet wurde.

Es gibt aber auch andere Lesarten des Textes:

Eine besagt, dass der Prophet Jesaja die Leiden des Volkes Israel im 6. Jahrhundert vor Christus beschrieben hat. Danach sind die Israeliten von den Babyloniern besiegt worden. Die Besiegten wurden nach Babylon verschleppt. Babylon war eine Metropole, das damalige Zentrum einer großen Streitmacht. Babylon lag im heutigen Iran. Die Israeliten mussten dort Zwangsarbeit leisten.

Im Exil konnten sie die Landessprache nicht verstehen. Sie lebten als Fremde mitten in einer anderen Kultur und waren mit ganz verschiedenen Religionen konfrontiert. Sie fühlten sich heimatlos, schutzlos. Sie wurden benachteiligt und waren Übergriffen ausgesetzt. Sehnsüchtig hofften sie auf ihre Rückkehr nach Israel.

Der Prophet Jesaja hat den Heimatlosen mit seinen Worten Mut gemacht. Er hat ihre Leiden und Schmerzen beschrieben und sie nicht beschönigt. Gleichzeitig hat er sie bestärkt, sich auf ein Leben im Exil einzulassen, ohne die eigene Identität und den eigenen Glauben aufzugeben. Er hat die Leute ermutigt, sich in der Fremde auf den Gegensatz zwischen Sich-öffnen und Sich-schützen müssen mitten in den Herausforderungen im Exil einzustellen. Diese Ermutigung ist für Menschen im Exil und für Geflüchtete bis heute ein Trost und eine Stärkung.

Und es gibt noch eine weitere, christliche Lesart des Textes: Viele Ausleger und Schriftgelehrte haben Jesu Leben, Leiden und Sterben vor dem Hintergrund der alten prophetischen Worte des Jesaja verstanden. Jesus hat sich jeden Morgen neu für Gottes Wort geöffnet und daraus Kraft gewonnen. Er brauchte das, um die Schmähworte, den Spott, die Schläge und das Leid gegen sich aushalten zu können. Aus Selbstschutz wurde sein Körper hart wie Stein; wie ein Kieselstein, so schrieb es Jesaja. Dennoch blieb Jesus verletzlich. Er ließ nicht ab von seinen Überzeugungen und seinem Glauben.

Manche christlichen Gelehrte haben das Leiden und den Tod von Jesus allerdings ausschließlich als die Erfüllung der alten Weissagung des Propheten Jesaja gedeutet. Damit haben sie die Verständigung zwischen Judentum und Christentum enorm erschwert. Denn Jesaja war ein jüdischer Prophet und bis heute eine wichtige Stimme in der jüdischen Tradition. Da das Judentum Jesus aber nicht als ihren Messias anerkannt hat, ist es hoch problematisch, die Verse des Propheten Jesajas so radikal und ausschließlich auf Jesus zu projizieren.

Dabei hat der Text innerjüdisch eine ganz eigene Kraft: Im Zusammenhang mit antisemitischen Pogromen im Mittelalter und mit der Shoa im 20. Jahrhundert, haben jüdische Gläubige die Worte des Propheten Jesaja immer wieder auf ihr eigenes Schicksal bezogen. Es war ein Schicksal voller Gewalt, Vertreibung, Enteignung, Flucht bis hin zum Massenmord.

Die Worte des Propheten Jesaja haben den Juden und Jüdinnen aus aller Welt eine Stimme gegeben, als sie selbst keine Stimme mehr hatten. Vertriebene und Gequälte haben sich mit den alten Versen identifiziert. Sie waren davon überzeugt, dass in dem Text die Stimme ihres Volkes erklingt, das von außen angefeindet wurde. Es war ein Volk, das auf Rettung gehofft hatte, das sich schützen und verschließen musste, und dennoch offen blieb für die Nähe und das Wort Gottes – jeden Tag neu.

Im jüdisch-christlichen Dialog ist viel darum gestritten worden, wessen Stimme denn nun in den Versen des Propheten Jesaja zu hören sei. Die Fronten waren oft verhärtet. Sie haben verhindert, dass die verschiedenen Parteien sich verständigen konnten.

Gott sei Dank hat sich das im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert. Der jüdisch-christliche Dialog hat viel dazu beigetragen. Mittlerweile werden die verschiedenen Lesarten respektiert. Sie stehen im Vielklang der Auslegungen nebeneinander. Sie repräsentieren ganz verschiedene Interpretationen und Auslegungstraditionen. Alle haben ihre Berechtigung, solange sie die Lesarten der anderen respektieren und nicht vereinnahmen.

Ich möchte die Kraft der Worte des Propheten Jesaja daher für sich stehen lassen. Viele Menschen können sich aus ganz unterschiedlichen Gründen mit diesen Worten identifizieren.

Sie alle eint die Erfahrung, dass das Leben voller Gegensätze ist und dass Lebensfreude und Verzweiflung, Offenheit und Verschlossenheit, Hoffnung und brutale Gewalt, Leben und Tod oft sehr nah beieinander sind. Das erleben wir ganz besonders krass in der Karwoche. Sie beginnt heute am Palmsonntag und führt mit Karfreitag zur Erinnerung an Leiden, Kreuzigung und Tod von Jesus. Und drei Tage später, am Ostersonntag, feiern wie Auferstehung und neues Leben.

Solche gegensätzlichen Lebenserfahrungen fordern alle auf, sich über das Fundament ihres Lebens, ihres Glaubens und ihrer Hoffnung Gedanken zu machen. Es ermutigt sie vielleicht, mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen und voneinander zu lernen. Denn darum geht es: Wie können Menschen mit Gegensätzen umgehen?

Hoffnungsvoll und offen durch die Welt gehen, obwohl manche von ihnen angefeindet und angegriffen werden, weil sie anders leben anders aussehen, anders sprechen oder anders glauben als die anderen. Sie wie damals die Israeliten in Babylon oder so wie Geflüchtete heute.

Sie werden hart werden, um sich zu schützen und wollen gleichzeitig offen bleiben für Respekt, Glaube, Hoffnung und Liebe – für sich und andere.

Persönlich und als Gemeinschaft fordert der Prophet Jesaja von jedem und jeder einzelnen genau das, was auch das Leben fordert: die Kunst im Gleichgewicht zu bleiben und Gegensätze auszuhalten. Denn Gegensätze und Widersprüche sind Teil des menschlichen Lebens. Nicht nur in der Woche zwischen Palmsonntag, Karfreitag und Ostern.