Das Buch „Requiem“ von Frances Itani hat mich berührt und in seiner Thematik gepackt. Ich versuche zu erklären warum.

Vielleicht war die Intensität dieses Buch nur deshalb möglich, weil die Autorin Frances Itani einerseits keine direkte Betroffene der historischen Geschehnisse ist. Andererseits hat sie die Geschichte ihres Mannes und die seiner japanisch stämmigen Familie mit großer Kenntnis und Empathie aufgeschrieben, ohne zu verurteilen.

Itani packt in ihrem Buch „Requiem“ gleich mehrere Tabuthemen an: Die Internierung von mehr als Hunderttausend japanisch stämmigen Frauen, Männern und Kindern aus den USA und Kanada in Barackenlager nach der Bombardierung von Pearl Harbor durch japanische Soldaten ab 1942. Die Zwangsarbeit japanisch stämmiger Männer und Frauen von 1942 bis 1945. Die Diskriminierung von Menschen asiatischer Herkunft und gemischtrassiger Partnerschaften in Kanada und den USA, die 1945 noch lange nicht beendet war.

Diese schwierigen Themen bearbeitet Itani mit beeindruckender Erzählkraft und ganz ohne Larmoyanz oder Verurteilung. Sie tut dies anhand der fiktiven Geschichte vom japanisch stämmigen Bin Okuma und seiner Herkunftsfamilie Oda, die alle bereits in Kanada geboren worden sind. Bin ist zur Zeit der Internierung 1942 ein kleiner Junge. Er erzählt seine Geschichte aus der Ich-Perspektive. Die Zeitebenen von Erzählzeit im Jahr 1997 und erinnerter Zeit zwischen 1942 und 1945 wechseln sich ab, bedingen sich, rufen wechselseitig Assoziationen und Bilder hervor. Dadurch entsteht auf der Grundlage der historischen Ereignisse eine intensive mentale Landkarte, die durch Bins Erinnerungen, die Musik von Ludwig van Beethoven, die Fluss-Metaphorik  und die künstlerische Kraft des Malens, dem Beruf von Bin,  zusammengehalten werden.

Das Internierungslager der Familien Oda und Okuma befand sich am Frazer River in der kanadischen Provinz British Columbia. Die japanisch stämmigen Familien, die allesamt Fischer waren, mussten ihre Häuser an der Westküste von Kanada und der Küste von Vancouver Island verlassen. Sie verloren ihre Heimat, ihr gesamtes Hab und Gut, ihre Jobs, ihr ganzes Leben. Alles wurde beschlagnahmt. Ohne Entschädigung. Sie wurden zu Staatsfeinden erklärt und verloren von einem Tag auf den anderen ihre Bürger- und Menschenrechte.

Angesichts dieser ungeheuerlichen Ereignisse ist es erstaunlich zu lesen, wie pragmatisch, zielorientiert und fleißig sich die japanisch stämmigen Notgemeinschaften in den Internierungslagern eine neue Lebensgrundlage aufgebaut haben. Die Baracken, sanitären Anlagen, Werkstatträume und Gemüsefelder, alles bauten sie eigenhändig auf. In ärmlichsten Verhältnissen legten sie all ihr Können und Wissen zusammen, um in den eisigen Wintern und den heißen Sommern ohne Strom und fließend Wasser überleben zu können. Symbolisch stand dafür der mitgeschleppte Ofen der Familie Oda, der allen Lagerinsassen zugute kommen sollte.

Im Kontext dieser historischen Ereignisse entspinnt sich langsam die Geschichte von Bin:
Als dritt geborener jüngster Sohn der Familie Oda wurde er im Lager an den kinderlosen Witwer Okuma-San weggegeben. Dieser Verrat durch die eigene Herkunftsfamilie stellte für Bin nach dem traumatischen Verlust seiner ersten Heimat eine zweite tiefe Erschütterung dar. Er hat danach zwar weiterhin in demselben Internierungslager gelebt, und seine Herkunftsfamilie lebte in einer fast benachbarten Baracke. Aber sein Leben veränderte sich dennoch schlagartig.

Was er anfangs nicht ahnen konnte: Trotz der Sehnsucht nach seiner Mutter und den Geschwistern veränderte sich sein Leben in mancher Hinsicht durchaus zum Positiven. Denn sein zweiter Vater war klug, belesen und ruhig. Er war ein ehemaliger Klavierspieler und Lehrer gewesen. Aus Holz hatte er sich eine Klaviatur gezimmert und bemalt, und spielte seitdem im Lager auf den Holztasten. Sie ließen nur Klopf- und Rhythmus-Geräusche zu. Aber diese einzigartigen Geräusche reichten Bin noch Jahrzehnte später aus, um Klaviersonaten wieder zu erkennen. Es waren vor allem Stücke von Ludwig van Beethoven, die  der  ehemalige Klavierlehrer liebte und spielte und die ihn am Leben hielten. Diese Begeisterung für Beethoven gab der „Zweitvater“ Okuma-San an seinen Adoptivsohn Bin weiter. Außerdem durfte Bin bei seinem Zweitvater das tun,was er am liebsten tat: Tagträumen und malen. Liebevoll wurden für ihn leere Seiten aus Büchern herausgeschnitten, damit er Zeichenpapier hatte und darauf malen konnte. Sein „Erstvater“ hatte ihm das Zeichnen austreiben wollen. Beim Zweitvater durfte er sich kreativ austoben. Mit Musik, Kunst und einem sich langsam aber liebevoll aufbauenden Vater-Sohn-Verhältnis überlebten die beiden im Lager.

Nach der Auflösung des Lagers 1945 gingen sie gemeinsam in die benachbarte Provinz Alberta. Dort half der Zweitvater bei der Ernte und erledigte andere Aushilfsarbeiten. 1945 verlor Bin seine Erstfamilie komplett aus den Augen. Denn sie blieben in British Columbia und zogen oft um. Immer den Jobs des Vaters hinterher, der genau wie alle anderen ehemals Internierten Aushilfejobs erledigen musste, da er als Fischer seine Existenz verloren hatte.

Die Erzählzeit im Jahr 1997 erzählt von der tiefen Trauer des mittlerweile über 55-jährigen Bins, der einige Monate zuvor seine Ehefrau verloren hatte. Erst nach und nach erfahren die Leserinnen und Leser, dass die erfolgreiche Geschichtsprofessorin vor einigen Monaten an einem schweren Schlaganfall gestorben war. Ohne Vorwarnung für Vater und Sohn starb sie kurz nach dem Schlaganfall im Krankenhaus. Bin igelte sich daraufhin immer mehr ein. Er konnte als Maler nicht mehr arbeiten, obwohl eine wichtige Ausstellung anstand. Und auch die Auseinandersetzung mit seiner Erstfamilie blockierte er. Von seiner Schwester erfuhr er, dass sein Erstvater erkrankt war und er sich nach Jahrzehnten ohne Kontakt ein Treffen mit seinem zweiten Sohn wünschte. Bin lehnte dieses Treffen lange Zeit ab.

Schließlich machte sich Bin mit seinem geliebten Hund Basil auf, von seinem Wohnort in Ottawa im Auto gen Westen zu fahren. Er wusste zunächst nicht genau wohin er fahren und wie lange er unterwegs sein würde. Er ließ es auf sich zukommen. Im Laufe der Reise hörte er ausschließlich Klaviersonaten von Beethoven, die ihn mitten zurück ins Lager und zu seinem mittlerweile verstorbenen Zweitvater brachten.  Hinzu kamen die Erinnerungen an seine Frau aus den siebziger und achtziger Jahren vom Beginn ihrer glücklichen Ehe. Diese Erinnerungen vermischten sich mit Bildern aus seiner Zeit im Lager und der Zeit nach dem Krieg. Und plötzlich war Bin klar, was er tun musste: Das, was er bisher vermieden hatte: Sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen und zurück zum ehemaligen Internierungslager am Frazer River fahren.

Seine Erinnerungen ans Lager sah er auf der Fahrt durch die Brille des kleinen Jungen, der am großen und gewundenen Fluss Frazer eine neue Heimat und ein kraftvolles Symbol fürs Leben gefunden hatte. Seine professionellen Bilder von Flüssen in späteren Zeiten markierten sein im Körper eingezeichnetes Gefühl von Verbundenheit. Bin legte es im Laufe seiner Reise in den kanadischen Westen frei. Endlich am River Frazer angekommen, war vom ehemaligen Lager nichts mehr übrig geblieben außer Porzellanscherben im Sand. Trotzdem wusste Bin, dass er mit seinen Erinnerungen, mit der Trauer um seine Frau, mit den Sorgen um seinen Sohn und auf der Suche nach seiner eigenen Kreativität angekommen war. Dort am Fluss setzte er sich erstmals seit langer Zeit wieder mit Papier und Stiften hin und malte.

Der Frazer River wurde zum Sinnbild seines Lebens. Der Fluss gab ihm Orientierung und schließlich seine Kreativität zurück. Diese fast sakrale Begegnung mit sich selbst am Fluss ermutigte ihn, seinen Erstvater doch zu treffen und sich mit der verdrängten Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Die Begegnung fand am Frazer River statt.

Die Trauer um seine verlorene Ehefrau blieb trotzdem bestehen. Natürlich. Aber hinzu kamen neu aufkeimende Kreativität und Lebensenergie, trotz – oder gerade wegen aller Erinnerungen, Verluste, Unrechtserfahrungen und seiner Trauer.

Was mich an dem Buch fasziniert: Die unaufgeregte Verknüpfung von individuellem Schicksal und historischem Weltgeschehen. Sie wird durch Bins Trauer, Beethovens Musik und den Frazer River zusammen gehalten. Und was mich berührt: Das Buch ist ein wahrhaftiges Requiem:  Bin erweist seiner geliebten Ehefrau mit seinen Erinnerungen auf der Reise gen Westen die letze Ehre. Zugleich schafft er es, im Angesicht des Todes weiter zu leben.