Im September 2019 ist Nadia Bolz-Webers aktuelles Buch auf den deutschsprachigen Markt gekommen. Ich habe es gelesen. Es lässt mich mit gemischten Gefühlen zurück.

Unverschämt schamlos?

Keine Frage, mit ihren ersten beiden Büchern hat Nadia Bolz-Weber, die tätowierte lutherische Theologin aus Denver in Colorado (USA), in Deutschland einen regelrechten Hype um ihre Person und um ihre Bücher ausgelöst. 2017 war sie zum Evangelischen Kirchentag u.a. zu einer Bibelarbeit in Berlin eingeladen. Wenn sie auftrat, mussten die Räume wegen Überfüllung geschlossen werden. Ihre Fans – nicht nur im deutschsprachigen Raum – werden täglich mehr. Aber auch ihre erbitterten Gegner.

Nun ist also das dritte Buch von ihr auf dem deutschsprachigen Markt erschienen. Es heißt Unverschämt schamlos. Mein Plädoyer für eine sexuelle Reformation. Ist das Buch nun unverschämt? Und vor allem, ist es unverschämt schamlos? Nun, das kommt wohl auf die Perspektive an. Und auf das soziale und religiöse Umfeld der Leser*innen, die Lebenswelt, die Lebensform und so viel mehr.

Zielgruppe

In keinem anderen Buch von ihr wird so deutlich, dass Bolz-Weber für den US-amerikanischen Kontext schreibt. Und da vor allem für einen Leserkreis, aus dem sie selbst kommt: ein konservativ evangelikaler. Diese Information ist wichtig, um die Bedeutung des vorliegenden Buchs einordnen zu können.

Was erzählt Bolz-Weber nun über diesen konservativ evangelikalen Kontext? Verallgemeinerungen sind schwierig. Aber wenn man Bolz-Webers Ausführungen folgt, sind gläubige evangelikale Christ*innen fast immer obsessiv mit Sex beschäftigt, oder besser gesagt mit der Verhinderung von Sex. Denn ihr höchstes Ziel ist es ‚rein‘ und ‚unberührt‘ zu heiraten, zumindest für die Frauen. Für manche ist sogar schon ein Kuss vor der Ehe tabu. Kein Wunder, dass in diesen Kreisen auch Homo- und Bisexualität und jede Form der nicht binären Geschlechtsidentität ein Gräuel darstellen.

Bedeutung der Bibel

Hinzukommt, dass die Bibel in diesen Kreisen eine zentrale Rolle im Alltag spielt. Die Bibel wird als höchste Autorität und absolute Richtschnur fürs ganze Leben verstanden. Prediger*innen nutzen biblische Texte dafür, strenge Handlungsanweisungen auszusprechen und Menschen wegen abweichender Lebens- und Liebesweisen zu verdammen. Moralpredigten, sogenannte Dämonenaustreibungen und sogar Verfluchungen sind dabei gängige Formate.

Die Bibel wird als Wort Gottes für bare Münze genommen. Sie ist nach dieser Lesart, den Autoren der Bibel quasi verbal inspiriert in den Mund gelegt worden. Daher wird die Bibel wörtlich genommen. Jedes Wort gilt. Eigentlich. Denn wenn es um die Reinheits-, Kleidungs- und Essensvorschriften des Alten Testaments geht, dann gelten diese freilich als überholt. Das gilt aber nicht für andere Bibelstellen. Wenn es etwa um die Sünde Evas geht, sieht die Sache ernst aus. Denn Eva ist angeblich schuld an der sogenannten Ursünde. Sie hat Adam verführt und überredet, den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen. Mit dieser Anschuldigung mussten sich seit Eva alle Frauen herumschlagen. Die Frauen sind danach bis heute qua Geschlecht schuld daran, dass der Satan in die Welt gekommen ist. Und mit ihm die Ursünde – oder Erbsünde -, die von Generation zu Generation an alle Menschen weitervererbt wird.

Ziel des Buchs

Warum interessiert Bolz-Weber nun diese selbst in den USA doch eher mit Kopfschütteln bedachte Gruppe von erzkonservativen Evangelikalen, Freikirchlern und dogmatischen christlichen Fundamentalisten, die keinen-Sex-vor-der-Ehe predigen und Sexualität allgemein verteufeln?

Einerseits arbeitet sie sich an ihrer eigenen Biografie ab. Denn sie kommt aus einem streng evangelikalen Elternhaus und ist in einer eben solchen Gemeinde groß geworden. Erfahrungen aus ihrer religiösen Biografie lässt sie in Form von Erinnerungen in ihr Buch einfließen. Entsprechend kennt sie deren Positionen zu Sexualität und Sünde und die Frauen verachtenden Benimmregeln. Diese haben junge Frauen zu erfüllen, um ‚moralisch rein‘ vor einen späteren Ehemann treten zu können. Es sind Anleitungen, wie Mädchen und junge Frauen sich eine ‚keusche Weiblichkeit‘ zu eigen machen sollen. Genauso wie junge Männer eine Anleitung zu einer ‚dominanten Männlichkeit‘ eingetrichtert bekommen.

Andererseits sitzen bis heute zahlreiche Opfer dieser engen Sexualmoral und frauenfeindlichen Moralvorstellungen bei ihr in Seelsorge- und Beratungsgesprächen. Bolz-Weber arbeitet mit Opfern von religiös gerechtfertigter moralischer Gehirnwäsche und weiblicher Unterordnung. Sie hat Interviews mit Betroffenen geführt und lässt einige dieser Geschichten in ihr Buch einfließen. Es ist ihr erklärtes Ziel, diese Leute, vor allem Frauen, Schwule, Lesben, Bi*- und Trans*-Leute, aus den von Menschen gemachten Gefängnissen aus Schuld, Scham und Doppelleben herauszuholen. Und genau für diese Leute ist das Buch hilfreich und befreiend.

Ihre Kritik

Was Bolz-Weber kritisiert: Dominanz und Machtmissbrauch von Männern gegenüber Frauen, von Heteros gegenüber Homos, Weißen gegenüber Schwarzen. Dieser Missbrauch werde immer wieder durch biblische Texte, vor allem durch das Erste Buch Mose gerechtfertigt. Heteronormative Vorstellungen und rigide Sexualmoralvorstellungen werden als ‚Gottes Plan‘ dargestellt (S. 57). Dagegen erwidert sie, dass alle Menschen aufgrund ihrer Einzigartigkeit und uneingeschränkten Gottesebenbildlichkeit ein Recht auf Selbstbestimmung, auch auf sexuelle Selbstbestimmung, und auf unveräußerliche Würde haben (S.62).

Ihr Zuspruch

Würde sei den Menschen aufgrund ihrer Gottesebenbildlichkeit ohne Vorbedingung geschenkt, ohne Vorleistung, ohne Anstrengung, ohne besonders keusch und weiblich oder besonders dominant und männlich sein zu müssen. Bolz-Weber wünscht sich, dass Menschen ihr Sexualleben ohne Verkrampfung, Furcht oder Scham entdecken und leben können, oder sich frei und selbstbestimmt gegen Sex entscheiden. Was ihnen selbst gut tut, ist bedeutsam, und nicht, was irgendwelche evangelikalen Ratgeber vorschreiben.

Bolz-Weber hat in ihrem Buch auch über Erfahrungen einer lesbischen Frau und eines Trans-Mannes aus ihrer Gemeinde geschrieben. Zudem hat sie über ihre eigenen Erfahrungen von einem Schwangerschaftsabbruch berichtet. Zumeist einfühlsam, manchmal ironisch verfremdend schreibt sie über Krisen und schwere Lebensentscheidungen, ohne diese zu verurteilen.

Ihr Alltagsbezug und ihre Lebenserfahrungen machen es möglich, über diese Themen existenziell nachzudenken. Trotz oder gerade weil diese Themen die Gemüter von konservativen Evangelikalen erhitzen und sie in ihrer selbstgerechten Inbrunst angeblich den ‚Kampf der Gerechten‘ kämpfen. Bolz-Weber hält dagegen das Recht auf Selbstbestimmung, die Freiheit den eigenen Lebensweg zu gehen und eigenverantwortlich Entscheidungen zu fällen, ohne dafür verdammt zu werden.

Ihr intimstes Buch

Bolz-Weber hat mit ‚Unverschämt schamlos‘ wohl ihr intimstes Buch geschrieben. Es geht um die freie Selbstbestimmung bei den Themen Sexualität, Schwangerschaftsabbruch, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität. Sie hat in diesem Buch alle Themen angefasst, die auch in Deutschland immer noch umstritten sind und kontrovers verhandelt werden. In ihrer gewohnt schnoddrigen und kreativ assoziativen Art hat sie dazu biblische Texte quer gelesen und lebensnah und anschaulich auf die strittigen Debatten hin bezogen.

Menschenfreundlich, humorvoll und empathisch stellt sie sich auf die Seite derer, die teilweise ihr Leben lang nichts anderes als Vorwürfe, moralischen Tadel und Verdammnis gehört haben und versucht sie zu einem selbstbestimmten Leben zu ermutigen, ohne Verletzungen, biografische Bruchstellen und Narben zukleistern zu wollen. Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass persönliche Entwicklung und Heilung nicht zu haben sind, ohne die Schmerzen und Abgründe anzuschauen, zum Teil mit professioneller Hilfe zu bearbeiten und hoffentlich irgendwann hinter sich lassen zu können. Es ist ein lebenslanger Prozess. Ihr Buch hilft als Begleitlektüre.

Mehrwert

Für Menschen, die im europäischen Kontext leben und aufgewachsen sind, erscheinen viele der lebensgeschichtlichen Beispiele allerdings weit hergeholt. Für sie wird dieses Buch nur aus distanzierter Perspektive einen Mehrwert haben. Auch ihr theologisch fundierter Zuspruch ist für viele nicht unbedingt neu. Insofern bietet dieses Buch für die meisten vermutlich weder eine ‚sexuelle Reformation‘ noch ist der Inhalt ‚unverschämt schamlos‘. Dennoch ist ihr erfrischend freier Umgang mit biblischen Geschichten und ihre Fähigkeit Alltagsleben, biblische Texte und theologische Positionen zu den Themen Sexualität und Sexualmoral in leichter Sprache zusammenzubinden faszinierend.

Für Menschen, die Bolz-Weber als Zielgruppe im Kopf hat, mag dieses Buch bestärkend, befreiend, ja sogar lebenswichtig sein. Für alle andere ist es ein intimes Zeugnis darüber, wie sich Bolz-Weber und andere aus der erstickenden Enge konservativ evangelikaler Welten herausgelöst haben. Sie tun das, ohne die befreiende Kraft des biblischen Gottes zu verlieren und gewinnen dabei eine que(e)r gebürstete und erfrischend undogmatische lutherische Theologie.

 

Zum Weiterlesen:

Nadia Bolz-Weber, Unverschämt Schamlos. Mein Plädoyer für eine sexuelle Reformation, Bredow Verlag, Moers 2019

Katharina Payk, Schamlos gläubig, in: evangelisch.de (25.09.2019)

US-Pastorin will sexuelle Reformation in der Kirche, in: evangelisch.de (9.02.2019)