Der 9. November 1938 war in Deutschland ein Tag von unvorstellbarer Gewalt und Zerstörung. Es war bis Dato der grausame Höhepunkt der Nazipropaganda gegenüber Juden und Jüdinnen. Gleichzeitig war er  der Beginn der systematischen Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens in weiten Teilen Europas.

Ich habe davon zum ersten Mal gehört, als ich mit etwa 14 Jahren das Buch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr gelesen habe. Gruselig fand ich es, wie aus der Sicht eines jüdischen Kindes Anna erzählt wird, was in dieser Nacht geschah. Ich fand es schrecklich, wie Annas Familie ohne erkennbaren Grund entrechtet und enteignet wurde und von nun an vor Hitler fliehen musste.

Damals dachte ich nur: Wie konnte das nur so weit kommen? Gott sie Dank ist das lange vorbei. In so einer Welt wollte ich nicht leben. Trotzdem habe ich mich, wie Hunderttausende andere, gefragt wie es dazu kommen konnte. Wer konnte diese Hetze, diese Gewalt gegen Menschen und heilige Stätte zulassen? Warum hat sich niemand dagegen gewehrt? Heutzutage muss ich selbst miterleben, wie Antisemitismus wieder stärker wird und auch von Leuten aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft unterstützt wird.

Wie es  damals zur schrecklichen Bekanntheit des 9. November kam, ist allgemein bekannt.  Am 7. November hatte der 17Jährige polnische Jude Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris geschossen. Er wurde schwer verletzt. Der Schütze wollte gegen die Deportierung polnischer Juden im Oktober 1938 protestieren. Auch seine Eltern gehörten zu den Deportierten.  Die Nazis nahmen diese Tat zum Anlass, eine groß angelegte Welle der Gewalt gegen Juden und Jüdinnen in Deutschland loszutreten.

Am 9. November 1938 starb vom Rath an den Folgen seiner Verletzungen. In der gleichen Nacht wurden überall in Deutschland jüdische Menschen verhaftet, deren Geschäfte geplündert und Synagogen verbrannt. Bilanz:  Über 1200 zerstörte Synagogen, 7500 zerstörte Geschäfte, 91 Menschen wurden in dieser Nacht ermordet, viele verletzt. 30.000 jüdische Männer wurden in der Folge verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.

Aufgrund der Tausenden zerstörten Schaufenster wurde die Nacht Reichskristallnacht genannt. Tatsächlich war es die erste systematische Gewaltwelle der Nationasozialisten gegenüber Juden und Jüdinnen, gegen Synagogen und Eigentum. Viele nennen diese Nacht daher bis heute Reichspogromnacht.

Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es zu diesen Ereignissen eine mehr oder weniger stark begangene Erinnerungskultur. Mit Mahnwachen und vielfältigen Veranstaltungen werden am 9. November an die Greueltaten des 9. November 1938 erinnert. Gleichzeitig wird am 9. November auch der Maueröffnung in Berlin im Jahr 1989 gedacht. Aufgrund dieses Datums droht die Erinnerung an den 9. November 1938 immer weiter zurückgedrängt zu werden.

Wie notwendig eine kritische Erinnerungskultur weiterhin ist, zeigen die jüngsten antisemitischen Übergriffe in Deutschland und darüber hinaus. In Berlin Neukölln sind Anfang November 2017 zwölf Stolpersteine aus dem Straßenpflaster herausgerissen und gestohlen worden. Damit wurde Menschen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden, ein zweites Mal Gewalt angetan.

Traurige Gewissheit: Es gibt in Deutschland kaum noch Juden, die öffentlich eine Kippa tragen. Sie haben Angst vor Übergriffen. Wie kann es sein, dass im Land der Shoa und der Massenvernichtungen von 6 Millionen Jüdinnen und Juden offener oder verbrämter Antisemitismus wieder so viel Zulauf hat? Die ideologische Konstruktion der Nationalsozialisten wird unverhohlen wieder genutzt: Der Jude ist an allem schuld. Er wird zum Sündenbock für eigenes Versagen, für gesellschaftliche Konflikte und politische Krisen. Und er wird erneut zur ideologischen Grundlage für steigende Aggressivität gegenüber allem Fremden.

Die gesellschaftspolitischen Konflikte zwischen Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten tun ein übriges, um weitgehend unbehelligt gegen Juden und Jüdinnen weltweit zu wettern. Obwohl diese mit dem Staat Israel nicht gleichgesetzt werden können. Insgesamt sind Hass und antisemitische Hetze wieder hoffähig geworden, vor allem im anonymen digitalen Raum.

Aber es gibt auch ermutigende Nachrichten. Die 15-Jährige Schülerin Emilia S. aus Dresden hat sich gegen zunehmenden Antisemitismus in ihrer Schulklasse gewehrt. Einen Mitschüler hat sie schließlich wegen Volksverhetzung angezeigt. Am 7.11.2017 hat sie dafür den Preis für Zivilcourage gegen Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Rassismus des Förderkreises „Denkmal für die ermordeten Juden Europa e.V.“ und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin erhalten.  Einen Teil des Preisgeldes spendete sie noch am gleichen Abend für einen 14-Jährigen jüdischen Schüler aus Berlin. Er war von Mitschülern gemobbt und angegriffen worden.

Und es gibt weitere positive Beispiele: Anlässlich der 80-Jährigen Wiederkehr der Reichspogromnacht im Jahr 2018 wurde bundesweit ein Schulprojekt ausgeschrieben: „Erinnerung sichtbar machen“.  Es ruft Schulen auf, an einem virtuellen Erinnerungsprojekt mitzumachen. Schülergruppen, Schulklassen oder ganze Schulen werden eingeladen, Daten zu Synagogen und/oder jüdischem Leben in ihrer Stadt zu recherchieren und in einer Datenbank zu dokumentieren. Zusätzlich zu Fakten und Bildern können Audiodateien, Videos und anderes zu den jeweiligen Orten hochgeladen werden. Die Inhalte werden nach Abschluss des Projekts auch im Internet verfügbar sein. Damit soll die Erinnerung an den 9. November 1938 auch für junge Generationen nachvollziehbar und erlebbar gemacht werden.

Diese und andere Aktionen sind für mich ein Hoffnungszeichen und eine Ermahnung. Einen 9. November 1938 darf es nie wieder geben. Dafür ist die Generation der Kriegsenkel und alle folgenden Generationen verantwortlich. Gerade weil sie nicht selbst an den  damaligen Massenvernichtungen beteiligt waren.

 

Zum Weiterlesen:

Kerstin Söderblom, Rückblick auf den 9. November 2015.