Die nachfolgende Dialogpredigt habe ich am ökumenischen Semesterabschlussgottesdienst am 8. Juli 2020 in der Kirche der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) in Mainz gehalten. Sie bezieht sich auf die Bibelverse 1. Thessalonicher 5,14-21.
Paulus
Ich bin Paulus. Ich bin Jude und kenne die Thora und die meisten jüdischen Gesetze wie meine Westentasche. Eine lange Zeit habe ich Christen und Christinnen verfolgt. Sie waren für mich Abtrünnige vom richtigen Glauben. Ich war besessen davon, diese neue Glaubensrichtung auszurotten und die Mitglieder der Sekte zu verhaften und zur Vernunft zu bringen.
Und dann bin ich sprichwörtlich vom Saulus zum Paulus geworden. Bei einem Sturz vom Pferd in Damaskus war mir ein Fremder erschienen. Und der erzählte mir von Jesus Christus.
Und genau in dem Moment wusste ich. Hier passiert was Besonderes. Und hier geht´s um Gottes Sohn. Die Energie, die ich an dem Tag gespürt habe. Ich weiß nicht, das war unglaublich und hat mir fast den Atem verschlagen.
Ich wusste, dieser Moment wird mein Leben für immer verändern. Und so war es dann auch.
Von da an war ich der wichtigste Prediger für die Sache von Jesus. Ich wanderte durch viele Regionen, besuchte Menschen in Städten und auf dem Land und gründete Gemeinden. So auch in Thessalonich. Was ihr eben aus der Bibel vorgelesen habt, kommt aus meinem Brief an die Gemeinde in Thessalonich.
In der Gemeinde aßen wir zusammen, feierten Gottesdienste, und ich erzählte von Jesus Christus. Er hat sich um Schwache gekümmert, hat Ausgestoßene ernst genommen und angehört. Er hat Trauernde getröstet und nie Böses mit Bösem vergolten. So sollten wir uns auch verhalten. So sollten wir als Christ*innen erkennbar sein. Das war meine Botschaft. Ihr habt´s ja gehört.
Heutige Stimme
Paulus, ist ja schön und gut, was du da erzählst. Aber was hat das alles mit uns zu tun? Wir leben in einer ganz anderen Zeit. Und haben ganz andere Sorgen. Du hast die Stimmen der Studierenden und der Pfarrer gehört: Wir schlagen uns seit Monaten mit der Corona-Pandemie herum, Menschen sind krank und liegen auf Intensivstationen.
Viele sind am Virus gestorben. Alte und kranke Menschen waren lange Zeit total isoliert. Über zwei Monate waren keine Geschäfte geöffnet, Cafés, Bars und Restaurants waren zu. Der Einzelhandel ging in die Knie. Die Tourismusbranche hat Milliardenverluste gemacht. Viele Menschen sind in Kurzarbeit oder sind arbeitslos geworden. Die meisten Studierenden haben ihre Nebenjobs verloren. Das Studium lief komplett online, und die meisten Kontakte fielen weg. Alles war anders, und alles ist anders als gedacht. Und die meisten sind weiterhin verunsichert. Sie fragen sich, wie das wohl weitergehen wird.
Gleichzeitig gehen in den USA und überall auf der Welt Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße. Und der Präsident schürt Hass statt Versöhnung. Das ist unsere Wirklichkeit. Da kannst du überhaupt nicht mitreden.
Paulus
Moment mal, so ein Quatsch. Bei uns ging es damals auch ums Ganze: Die christlichen Gemeinden waren Minderheiten. Sie wurden damals für alle möglichen Krankheiten und Verwerfungen verantwortlich gemacht – genau wie heute.
Das ist ein uralter Trick der Mächtigen, sich unliebsame Leute vom Hals zu halten. Wir wurden verfolgt, verleumdet und unterdrückt. So sah das damals aus.
Und jetzt mal ganz ehrlich, wie geht ihr denn heute mit Minderheiten um? Schwarze werden von Polizisten ermordet, das hast du selbst gesagt. Geflüchtete werden beschuldigt an allem Möglichen schuld zu sein. Migrantenfamilien haben bis in die dritte, vierte Generation weniger Chancen in der Gesellschaft als andere. Lesben, Schwule, Bi* und Trans* Leute, Juden und Jüdinnen werden für das Corona-Virus verantwortlich gemacht. Hallo? Echt jetzt? Nennst du das einen aufgeklärten Umgang mit Krisen? Ich bitte dich, da waren wir früher auch nicht schlimmer.
Moderne Stimme
Nun spiel dich mal nicht so auf, Paulus. Wie habt ihr es denn damals mit Sklaverei und Homosexualität gehalten? Weil du so einen Mist in deinen Briefen geschrieben hast, haben wir heute Probleme mit denen, die die Bibel wörtlich lesen und verstehen. Danke für nichts!
Aber vieles konntest du damals tatsächlich noch nicht wissen. Unsere medizinischen, technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften durch die Jahrhunderte waren und sind gigantisch.
Aber sie schützen uns nicht vor Dummheit. Wir wissen eigentlich, dass Klimawandel, Dürreperioden, Kriege um Ressourcen, Fluchtbewegungen und religiöser Fundamentalismus von Menschen gemachte Probleme sind. Wir wissen, dass auch für die Corona-Pandemie Menschen verantwortlich sind und Corona sicher nicht die letzte Pandemie gewesen sein wird.
Und wir wissen auch: Wenn wir alles prüfen und nur das Gute tun, bringt uns das allein noch nicht weiter. Denn genau wie bei euch damals ist es auch bei uns trotz aller wissenschaftlichen und sozialen Fortschritte umstritten, was denn nun das Gute sei, das es zu behalten gilt. Das ist doch eine hoch komplexe Angelegenheit und gleichzeitig total subjektiv. Jeder und jede sagt was anderes dazu. Super. Was waren denn eure Kriterien damals?
Paulus
Naja, erst einmal gab es Gesetze. An die mussten sich alle halten. Wie bei euch. Und für das tägliche Miteinander war für uns in den christlichen Gemeinden Jesu Leben und seine Worte entscheidend. Jesus hatte es klar gesagt: Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst. Dieses Doppelgebot der Liebe hat Jesus als das höchste Gebot bezeichnet. Es schließt alle anderen Gebote ein. Und daran hat sich Jesus auch selbst gehalten. Er hat zu Gott gebetet und sein Wort gepredigt.
Er hat die einfachen Leute besucht, hat ihnen zugehört, mit ihnen gegessen und gefeiert. Er hat sie vom Rand in die Mitte geholt und ihnen ihre Würde zurück gegeben. Darum geht es doch: den Menschen ihre Würde zurückgeben. Denn sie sind alle Kinder Gottes. Das ist doch die zentrale Botschaft!
Deshalb ist es so wichtig, dass man seine eigenen Haltungen und Handlungen überprüft und das Gute behält. Das passiert nicht automatisch. Auch mit euren tollen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht. Das sieht man doch, wenn man dir zuhört und du von den ganzen Katastrophen und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten erzählst, mit denen ihr euch herumschlagt.
Moderne Stimme
Nun ja, da hast du Recht, Paulus. Aber es ist halt alles nicht so einfach. Und heute ist die Welt nunmal noch viel komplexer als sie damals war. Da reicht es nicht mehr, nur von den Worten und Taten von Jesus zu erzählen. Ja klar, seine Worte und Taten können immer noch Orientierung geben. Aber viele Menschen glauben nicht mehr an christliche Werte oder haben es noch nie getan. Die Kirchen sind so leer wie nie. Es ist halt alles kompliziert.
Paulus
Auch hör doch auf! Komplex, kompliziert…. Meinst du, das Leben damals war nicht kompliziert? Thessalonich war eine multikulturelle Hafenstadt. In ihr lebten Menschen mit ganz unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Göttern. So wie bei euch. Und die christliche Gemeinde war eine kleine Minderheit. Und wir haben trotzdem nach Jesu Worten und Taten gelebt, obwohl das lebensgefährlich war. So sieht´s aus. Dann könnt ihr das ja wohl auch tun.
Ich verstehe ja auch, dass es nicht darum geht, alles von damals eins zu eins umzusetzen. Ich hab schon verstanden, dass eure Welt und eure Kulturen ganz anders sind als unsere damals. Aber gewisse Themen haben sich nicht verändert: Korruption, Betrug, Ausgrenzung, chronische Krankheiten, Verfolgung von Andersdenkenden und Andersgläubigen.
Da müsst ihr was tun. Und die Leute müsst ihr schützen! Denn nochmal, sie sind alle Kinder Gottes. Das ist wichtig.
Prüft alles und wählt das Gute. Was das ist, das müsst ihr heutzutage wirklich selbst definieren. Das kann ich euch nicht abnehmen. Aber das Leben und die Worte von Jesus können euch immer noch dabei helfen. Davon bin ich überzeugt.
Moderne Stimme
Prüft alles und behaltet das Gute. In den letzten Monaten habe ich tatsächlich einiges Gutes gesehen und erlebt und wir haben heute auch schon einiges von den Studierenden gehört:
Die einen sind für ältere und kranke Menschen einkaufen gegangen. Virolog*innen, medizinisches Personal und der gesamte Pflege- und Gesundheitssektor haben super Arbeit geleistet.
Es gibt Nachbarschaftshilfen und Unterstützungsnetzwerke für kleine Geschäfte, Initiativen und Kulturanbieter. Länder und Kommunen haben riesige Unterstützungsprogramme geschnürt. Freie Musiker*innen und Künstler*innen sind mit Veranstaltungen und Konzerten digital aktiv geworden.
Die Hochschulgemeinden haben die Nothilfefonds für Studierende erhöht und mehr Geld ausbezahlt. Wir haben Abstands-Veranstaltungen und Gottesdienste online und offline gefeiert. Viel Kreatives ist im digitalen Raum entstanden. Diakonie, Caritas und alle sozialen Anbieter hatten und haben alle Hände voll zu tun.
Und Gott sei Dank gibt es viele Menschen, die gegen Verschwörungstheoretiker*innen aufstehen und ihre verschwurbelten Theorien und Schuldzuweisungen online und offline kritisieren.
Paulus
Das klingt doch alles ganz gut. Aber aus eigener Erfahrung weiß ich: Das kann kippen. Ich bin wegen meines Glaubens im Gefängnis gewesen. Andere wurden verfolgt und hingerichtet. Ihr müsst heute genauso aufpassen wie wir damals, dass Hass, Rücksichtslosigkeit und Gewalt nicht menschliches Zusammenleben zerstören. Die Extremisten gab es immer schon. Die gibt es auch bei euch. Aber diejenigen, die mitlaufen und nichts sagen, unterstützen ungewollt Hass und Ausgrenzung mitten in der Gesellschaft.
Das habe ich damals erlebt. Das erlebt ihr heute. Gesetze kommen da meistens nicht ran. Deshalb ist jeder und jede einzelne gefragt.
Es geht um die Haltung, die vor Worten und Taten steht.
Daher war mir damals so wichtig, was ich der Gemeinde in Thessalonich geschrieben habe: Prüft alles und behaltet das Gute!
Es geht um eine bewusste Selbstreflexion und eine kritische Prüfung aller Verlautbarungen und Entscheidungen. Niemand kann sich da rausreden. Alle sind verantwortlich. Individuell und kollektiv. Erzähl das mal deinen Leuten in Kirche und Gesellschaft! Das war damals schon existenziell wichtig.
Und das ist es heute auch noch. Amen.
Mein erster Eindruck war: Paulus würde anders klingen. Fordernder, missionierender, autoritärer, motivierender.
„Es geht um eine bewusste Selbstreflexion und eine kritische Prüfung aller Verlautbarungen und Entscheidungen. Niemand kann sich da rausreden. Alle sind verantwortlich. Individuell und kollektiv.“
Einen solchen Satz hätte er weder geschrieben noch in einer solchen Situation gesagt. Er war in der Lage, Leute zu erreichen, die weder lesen und schreiben konnten, und hat knapper, klarer und verbindlicher formuliert. Mit einer auch heute noch erfolgreichen Mischung von Zuckerbrot und Peitsche. Er hat die Gemeinde gelobt, aber auch weiter angespornt. Er hat keinesfalls wie von gleich zu gleich gesprochen, sondern die Autorität eines Apostels beansprucht, diese aber gleichzeitig geschickt verpackt in ein gemeinschaftliches Leben. Worum es ging, war für ihn, mit Jesus Christus als dem Erlöser dem ansonsten unvermeidlichen Gericht Gottes zu entkommen, nach einer Endzeit, die jeden Tag durch die Widerkunft Christi abgeschlossen werden konnte.
Heute würde er wahrscheinlich mit den gleichen Formulierungen rüberkommen wie ein Sektenprediger. Aber so wieder er damals in der Lage war, passend zu seiner jeweiligen Leserschaft zu schreiben, wäre er das heute auch. Aber die Grundeinstellung und das spürbare Feuer dahinter wäre das Gleiche.
Durchaus möglich. Interessante andere Perspektive.