Gedanken zur Walpurgisnacht. Ein Aufruf zur Wachsamkeit gegenüber Hass und Gewalt im Namen von Religion.

 

I.

Walpurgisnacht

Erinnerung an die Heilige Walpurga,
einer Äbtissin aus England im 8. Jahrhundert nach Christus.
An einem 1. Mai wurde sie heiliggesprochen.
Die Nacht vorher wurde betend und wachend das Fest vorbereitet.
Eine starke und weise Frau wurde besungen und heiliggesprochen.
War sie zu stark, zu unabhängig und zu weise?
Zu viel Ehrung für eine starke Frau?

Gleichzeitig ist der 30. April traditionell ein nord- und mitteleuropäisches Frühlingsfest.
Der Tanz in den Mai wird fröhlich begangen, Frühlingserwachen und Fruchtbarkeit werden gefeiert mit Musik, Freude, gutem Essen und Gesang.
Zu viel Fruchtbarkeitsritus?
Zu viel Tanz und Feier jenseits kirchlicher Regeln und Normen?

Diese Fragen kommen zwangsläufig,
wenn man sich die Geschichte dieser Nacht vor Augen führt:
Zahlreiche Mythen und Legenden gibt es über wilde Hexentänze und Zaubereien am Blocksberg und anderswo. Sie führten im Mittelalter zur Hysterie, zum Hass und zur Verfolgung von weisen Frauen, von klugen Männern und kritisch Andersdenkenden.
Hexenverfolgung.
Frauen und Männer wurden kriminalisiert, verurteilt und verbrannt.
Die Walpurgisnacht erinnert bis heute an diesen grausamen Verfolgungswahn.

 

Stundentanz an Walpurgis

© Heike Reiter 4/2001

 

Der Wind

Walpurgis

 

„Ist kalt

Der Krieger

Trägt das Banner

Mondschein und Sternensang

 

Lässt es fliegen

Lässt es wehen

Weit übers Land

Ist es zu sehen

 

Ein Ruf erschallt –

Des Windes Stimme

Mit fremden Klang:

 

Herbei!

Das Fest beginnt

Zur fünften Stunde.“

 

II.

Walpurgisnacht

Erinnerung an die Opfer eines hysterischen Christentums.
Erinnerung an fundamentale Menschenverachtung,
Vertreibung, Verbrennung, Mord.

Wer wird heute noch stigmatisiert und verfolgt
im Namen von Religion?
Wer ist heute angeblich Angst einflößend, anders, fremd, verzaubert,
sündig, andersgläubig, ungläubig, gefährlich?
Wer ist heute zu stark, zu unabhängig und zu weise
und wird im Namen der Religion verdammt?

Walpurgisnacht.
Die Nacht der Erinnerung.

 

 

Das Feuer

Walpurgis

 

„Erwacht

Wenn die Nacht beginnt

Leuchtet tiefe

Täler

Ins Kleid

Der Finsternis

 

Lässt strömen

Hoffnungsflüsse

Bringen Licht

Ins Gedankendunkel

Zur sechsten Stunde.“

 

III.

Walpurgisnacht

Erinnerung an Menschen, die nicht nur in Deutschland,
sondern in der ganzen Welt verfolgt werden im Namen von Religion:
Aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft, Geschlechtsidentität, Alter,
sexuellen Orientierung, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung oder ihrer Religionszugehörigkeit.

Wahnhafter Missionseifer, der zur Vereinnahmung und Zwang führt,
wie es indigene Völker aller Kontinente erlebt haben:
Schwarzafrikaner_innen, Innuits, Aborigines, Samis und viele mehr.

Fanatischer Missbrauch religiöser Texte, der zur Verfolgung Andersdenkender und Anderslebender führt,
wie Journalist_innen, Oppositionelle, Lesben, Schwule, Bi-, Trans-, Intersexuelle und Queers.

Extremistische Verzerrung religiöser Texte, die zur Legitimation von Hass und Gewalt anstiftet,
wie bei den Terroranschlägen in Paris, Brüssel, Beirut, Ankara, Jerusalem, Kabul, Aleppo, Homs, Bagdad  und anderswo.

 

Das Wort

Walpurgis

 

Ist alt,

Jedoch nicht siech

Die Zeit konnte es nicht fressen

Hat es immer wieder ausgespiehn

 

Geschrieben ward es wohl

Und auch gesprochen

So manches Mal geflüstert

Im Stillen

Zur siebten Stunde.

 

IV.

Walpurgisnacht

 

Innehalten in  einer Nacht, die das Leben feiert,
den Frühling, das Erwachen der Natur, der Sexualität
und aller Lebensgeister.

Walpurgisnacht.

Eine Nacht, die den Mai herbei singt
Mit frischer Energie, mit Freude und Lobgesang.
Eine Nacht, die aber auch um die Abgründe
des Lebens weiß.
Eine Nacht, die das Leben besingt und die Toten erinnert.

Diese Erinnerung und Mahnung atmet die Walpurgisnacht.

Die Nacht von Wind und Feuer,
von Wort und Lied,
von Tanz und Lebensfreude.

 

Das Lied

Walpurgis

 

„Von Schönheit schwer

Verklärt

An Rätseln reich

Wie die Vergangenheit

Es schrieb

 

Zählt nicht die Zeit

Nur Seelen, die ihm verfallen

Schlägt in seinen Bann

Wer es vernimmt

Zur achten Stunde.“

 

V.

Walpurgisnacht

Tanz in den Mai.

Erinnerung an kritische Frauen und Männer,
als Hexen verfolgt,
als Zauberer kriminalisiert,
als Häretiker diffamiert.
Verraten, verfolgt und verbrannt.

Ihr Vermächtnis ist unsere Aufgabe:
Hass und Gewalt im Namen von Religion brauchen sprachfähige Gegenwehr.

Mutige Frauen und Männer damals wie heute haben es gezeigt:

Paulus und Thekla.
Teresa von Avila und Hildegard von Bingen,
Margarete Porète und Franz von Assisi,
Albert Schweitzer und Dietrich Bonhoeffer,
Martin Luther King und Desmond Tutu,
Leonardo Boff, Oscar Romera und Elsa Tamez,
Dorothee Sölle, Marcella Althaus-Reid und viele mehr.

Nicht Hass und Gewalt sind Zeichen von Nachfolge,
sondern Gottes Wort von Glauben, Liebe und Hoffnung.
Die Botschaft von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe.
Sie führen zu Respekt und Mitmenschlichkeit in Worten und Taten.
Sie zeugen von einem solidarischen Christentum.

 

Der Tanz

Walpurgis

 

„Weckt

Was noch immer schläft

Gießt Funken ins Blut

Lässt herzen lodern,

Gedanken brennen und

Seelen tanzen

Lädt zum Fluge ein

 

Hinan

Hinauf

Findet den Silberweg!

 

Reigen um die Flammenmitte

Ein Rausch

Die Melodie des Seins

 

Ist Wind

Das Feuer

Ein Wort

Das Lied

Mit dem Tanz

Zur neunten Stunde.“

 

VI.

Walpurgisnacht

Ein Aufruf zur Lebensfreude, zu Respekt und Besonnenheit.
Ein Aufruf zur Wachsamkeit gegenüber Ausgrenzung und Gewalt.
Ermutigung und Mahnung sich zu erheben,
Zivilcourage zu zeigen,
das Leben in seiner Vielfalt zu achten,
Mitmenschlichkeit zu teilen,
Geflüchtete und Fremde einzuladen
und gemeinsam zu feiern.

Amen