Eine Rezension zum Buch „Ein gutes  Leben ist die beste Antwort.“
Die Geschichte des Jerry Rosenstein von Friedrich Dönhoff, Zürich 2014.

Ich bin in Bensheim an der Bergstraße aufgewachsen. Es ist eine südhessische Kleinstadt. 40.000 Einwohner_innen mit allen umliegenden Eingemeindungen leben dort. Die Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern ist renoviert und attraktiv. Es gibt ein kleines Stadtweingut mit guter Reputation. Die Lage an der Bergstraße mit ihren Weinbergen, Burgen und Schlössern in der Nähe ist günstig. Mit der Rheinebene im Westen und dem Odenwald im Osten vor der Tür ist Bensheim ein beliebtes Naherholungsziel für das gesamte Rhein-Main und Rhein-Neckar-Gebiet. Viele pendeln von Bensheim zur Arbeit nach Darmstadt, Frankfurt, Mainz, Mannheim oder Heidelberg.

Trotz dieser Vorzüge ist Bensheim eine Kleinstadt geblieben und nicht sonderlich bekannt. Umso mehr hat es mich gefreut ein Buch über einen Bensheimer zu lesen, der seit über sechzig Jahren in San Francisco lebt. In dem Buch ist er auf den Spuren seiner Kindheit unterwegs und kommt nach Bensheim zurück. Es handelt sich um Gerald B. Rosenstein, genannt Jerry, der mit dem Autor Friedrich Dönhoff von San Francisco über Amsterdam nach Bensheim gereist ist.

Das Buch entwickelt sich auf zwei Zeitebenen. Die eine spielt 2013, als der 86jährige Jerry Rosenstein und Friedrich Dönhoff gemeinsam von San Franscisco nach Amsterdam aufbrechen und von dort nach Bensheim reisen, um die Orte seiner Kindheit zu finden und sich zu erinnern. Die Ich-Perspektive wird vom Autor und Reisebegleiter Friedrich Dönhoff eingenommen. Die zweite Zeitebene beginnt mit der Machtergreifung Hitlers und wie die politischen Veränderungen das Leben der jüdischen Familie Rosenstein in Bensheim verändern, bis rechtliche Schikanen, Enteignungen und ein Brandanschlag auf ihr Haus ein Weiterleben in Bensheim unmöglich machen. Auf dieser Zeitebene berichtet Jerry Rosenstein aus der Ich-Perspektive von der Flucht der Familie nach Amsterdam, der Deportation seiner Mutter nach Theresienstadt, der Deportation von Vater und Sohn nach Ausschwitz und dem Schicksal seiner beiden Brüder Ernst und Hans. Alles, was Jerry auf dieser Zeitebene erzählt, erzählt er Friedrich Dönhoff auf der gemeinsamen Reise nach Bensheim. Vorher hat er über die traumatischen Erlebnisse geschwiegen. Auch nach 1945, als seine Eltern und er, die drei Überlebenden der Familie, zunächst nach Paris und dann nach New York zogen, um dort ein neues Leben aufzubauen, wurde darüber nicht geredet. Über die Ereignisse auf der Flucht und in den Lagern wurde zuhause nicht gesprochen und auch später in seiner neuen Heimat San Francisco hat Jerry darüber nie gesprochen. Schweigen als Überlebensstrategie. Eine Strategie für Hunderttausende dieser Generation. Für Opfer und Täter. Erst die Reise zu den Plätzen seiner Kindheit machte diese Erzählung möglich.

Jerry Rosenstein hat mit seinen Eltern Sophie und Max Rosenstein und seinen Brüdern Ernst und Hans seine frühe Kindheit in einer Villa an der Darmstädter Straße in Bensheim verbracht. 1927 wurde er geboren. Bis 1933 war sein Leben sorgenfrei. Sein Vater hat in Bensheim eine Möbel- und Polsterfabrik aufgebaut, die Einkünfte waren gut. Jerrys Mutter stammt aus der altehrwürdigen jüdischen Familie Bendheim, die schon seit über 200 Jahren in Bensheim lebt und gut angesehen ist. Die Familie ist jüdisch und fromm. Es wird koscher gegessen und Freitag abends und Samstag vormittags wird in die Synagoge gegangen. Das Leben ist strukturiert und geordnet.

Aus dieser heilen Welt wird die Familie mit dem Machtantritt von Adolf Hitler jäh herausgerissen. Die Schikanen gegen die jüdische Bevölkerung und gegen jüdische Geschäftsinhaber nehmen zu und machen auch vor Bensheim nicht halt. Als Hitler 1935 auf dem Weg nach Heidelberg in Bensheim Station macht und ihn die Bevölkerung inklusive des kleinen Jerrys jubelnd begrüßt, ahnt der noch nicht, dass dieser Mann und seine faschistische und antisemitische Politik schon bald sein Leben von Grund auf ändern wird. Bis 1936 hält die Familie den Schikanen, rechtlichen Einschränkungen und Enteignungen stand. Dann fliehen sie nach Amsterdam und lassen sich dort in der Hoffnung nieder, vor den Nationalsozialisten sicher zu sein. Leider geht diese Hoffnung nicht in Erfüllung.

Einfühlsam und ohne Pathos werden die beiden Erzähl-Ichs von Jerry Rosenstein und Friedrich Dönhoff auf den beiden Zeitebenen miteinander verbunden. Die Themen finden scheinbar zufällig einen Bezug auf der jeweils anderen Zeitebene und kommentieren sich damit gegenseitig. Dönhoff gelingt es, das frühere und das aktuelle Leben von Jerry Rosenstein vor den Leserinnen und Lesern aufschimmern zu lassen. Achtsam und liebevoll wird Jerry Rosenstein porträtiert.

Sein Motto „Ein gutes Leben ist die beste Antwort“ bestätigt sich im Buch. Obwohl das Leben von Jerry Rosenstein auch nach 1945 nicht einfach war. Denn er ist schwul. Er wusste, dass seine frommen Eltern das nicht verstehen würden. So musste er sich von seinen Eltern in New York emanzipieren. 1949 ist Jerry allein nach San Francisco gezogen. Erst dort hat er zu sich selbst gefunden: Ein nicht gläubiger jüdischer schwuler Mann, ohne festen Partner mit einem vielfältigen und interessanten sozialen Umfeld. Ein erfolgreicher Geschäftsmann mit einem guten Leben. Er ist liebenswürdig, feingeistig und humorvoll. Mit seinen 87 Jahren war er 2013 während der Reise körperlich fit und geistig wach. Er liebt  Musik, Oper und seinen Hund Foxy.

Am Schluss des Buchs sagt Jerry im Hotel in Bensheim zu seinem Reisebegleiter Friedrich Dönhoff:

„Weißt du, ich habe mir etwas überlegt: Wenn es meine Gesundheit zulässt, komme ich nächstes Jahr wieder!“

Ich hoffe sehr, dass Jerry noch lange gesund bleibt und noch oft nach Europa zurückkommt.
Hoffentlich auch nach Bensheim!

 

Zum Weiterlesen:

Friedrich Dönhoff, Ein gutes  Leben ist die beste Antwort.“
Die Geschichte des Jerry Rosenstein, Zürich (Diogenesverlag) 2014.