Nachtgedanken zum Thema Licht und Dunkelheit. Eine kritische Auseinandersetzung mit der negativen Bewertung von Dunkelheit.

I.

„Darkness cannot drive out darkness; only light can do that.
Hate cannot drive out hate; only love can do that.“ (Martin Luther King, Jr.)

„Dunkelheit kann die Dunkelheit nicht vertreiben; nur Licht kann das.
Hass kann den Hass nicht vertreiben; nur Liebe kann das.“ (Übersetzung K.S.)

Diese Zeilen von Dr. Martin Luther King Jr. waren nach den Terroranschlägen in Paris am 13. November 2015 überall in den sozialen Medien zu lesen.

Gut gemeint.
Beschwörend.
Eine klare Ansage gegen alle Ewig Gestrigen,
Rechtspopulisten, besorgten Bürger,
fundamentalistischen Christ_innen, Neonazis und viele mehr,
die nach den Anschlägen reflexhaft von Krieg sprachen,
von Rache, Hass und Gewalt
und die die Grenzen für Flüchtlinge am liebsten sofort schließen wollten.

„Dunkelheit kann die Dunkelheit nicht vertreiben. Nur Licht kann das.
Hass kann den Hass nicht vertreiben. Nur Liebe kann das.“

Gut gemeint,
beschwörend,
aber einseitig, unterkomplex.
Denn:
Dunkelheit wird gleichgesetzt mit Hass.
Licht wird gleichgesetzt mit Liebe.

Ist das so?
Helfen diese pauschalen Vereinfachungen?

Sie helfen nicht.
Im Gegenteil. Sie helfen die Gräben zu vertiefen.
Sie aktivieren rassistische Zuschreibungen und Bilder.
Und davon gibt es viele.

Schwarz – Weiß – Malerei,
Schwarzer Peter,
schwarze Liste,
schwarze Kasse,
schwarze Magie
Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Niemand.
Und wenn er aber kommt? Dann laufen wir!

Das Dunkle und Schwarze ist schlecht und gefährlich.
Das Helle ist gut und beruhigend.
So einfach lautet die pauschale Aussage.
Sie gibt Orientierung.
Und: sie verstärkt alte Vorurteile und schürt neue.

 

II.

„Dunkelheit kann die Dunkelheit nicht vertreiben. Nur Licht kann das.“

Meine Erfahrungen sind anders.
Ein Beispiel:
Im September war ich zwei Wochen auf der schottischen Insel Iona. Ich habe dort die Iona Community besucht. Es ist eine ökumenische Kommunität, die sich für moderne Liturgie und Spiritualität, internationale Friedensarbeit und nukleare Abrüstung einsetzt. Auf der Insel gibt es keine Straßenlaternen. Jeden Abend habe ich einen Spaziergang in die Dunkelheit gemacht.

Meine Erfahrung:
Je länger ich im Dunklen gegangen bin, desto mehr habe ich gehört, gerochen, gefühlt und schließlich auch gesehen.

Die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und haben Schattierungen unterschieden, Umrisse, und andere Lichtquellen wie Katzenaugen, Glühwürmer, Bootslichter im Wasser,
haben Sterne oder Mondlicht wahrgenommen.
Nur wenn mir jemand mit einer Taschenlampe entgegenkam und mich anstrahlte, habe ich überhaupt nichts mehr gesehen.
Zu grell war das Licht.
Es hat alle anderen Schattierungen und Farbnuancen um mich herum verschluckt.

Je länger ich im Dunkeln gegangen bin, desto intensiver habe ich die Wellen gehört, Möwen über der Bucht, ein Fischerbootsmotor in der Ferne, ein Windstoß im Wipfel vom Baum in der Nähe. Ich habe Seetang gerochen, die salzige Luft geschmeckt und meinen Atem gespürt.

Es waren intensive Momente.
Kostbar, selten.
Wann bin ich schon mal so bewusst in der Dunkelheit?
Gerne möchte ich es öfter sein.

„Dunkelheit kann die Dunkelheit nicht vertreiben. Nur Licht kann das.

Nein, Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben.
Aber sie muss es auch gar nicht.
Denn nicht die Dunkelheit ist gefährlich,
sondern die Angst der Menschen vor der Dunkelheit.

Und Angst führt zu Vorurteilen, zu Ablehnung und Hass.
Das ist das Problem.

Erst die Angst macht Dunkelheit unangenehm und gruselig.
Sie schreibt der Dunkelheit Gefahren zu, weil Menschen meinen nichts zu sehen,
keine Kontrolle zu haben, keine Sicherheit und keinen Schutz.

So wird die Dunkelheit denjenigen überlassen,
die etwas zu verbergen haben,
die Dunkelheit schätzen, weil sie in ihren zweifelhaften Geschäften nicht gestört werden wollen, die ihre rechten Parolen bei Pegida-Aufmärschen in den Nachthimmel skandieren.

Und die Angst?

Sie lässt sich am besten vertreiben, wenn man sich der Dunkelheit aussetzt und vielleicht ganz andere Erfahrungen macht:
Die Dunkelheit ist kostbar.

Dunkelheit heißt Schutz vor zu viel Sonne, Hitze und Licht.
Schutz vor Überbelichtung, vor zu vielen Eindrücken,
vor zu vielen Bildern, und zu viel Hektik,
vor zu viel Hass und zu viel Gewalt.

Dunkelheit bedeutet auch:
Ruhe, Rückzug, Schutz in einer Höhle,
im Schlafzimmer, an einem ruhigen Ort,
an dem das Auge ruhen kann;
Pause, Unterbrechung, Schlaf, Stille.

Ohne Dunkelheit werden Menschen genauso krank wie ohne Licht.
Ohne Dunkelheit gibt es zu wenig Pausen, Ruhepunkte, Verlangsamung.
Ohne Dunkelheit gibt es kaum Schlaf.
Ohne Dunkelheit kein Rückzug ins Private, Körperliche, Zärtliche.
Ohne Dunkelheit kaum der Mut zu Tränen, Umarmungen, Trost.
Ohne Dunkelheit weniger Sex,
körperliche Begegnung, Liebesspiel.

Im Licht werden die Sehnerven oft überfordert.
Alle anderen Sinnesorgane verkümmern, leiden, verlieren ihre Kraft.
Zu viel verlagern die Sehenden ihr Vertrauen, ihre Aufmerksamkeit auf Sehen und das Licht.

Rainer Maria Rilke hat es in einem Gedicht aus dem Jahr 1919 so formuliert:

„Du Dunkelheit, aus der ich stamme
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
mich nicht so sehr verhinderte am Wachen -:
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich, wie sie’s errafft,
Menschen und Mächte –

Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.

Ich glaube an Nächte.“

(Rainer Maria Rilke: Du Dunkelheit, aus der ich stamme, 1919)

 

III.

Auch in der Bibel gibt es Licht – Dunkelheit – Metaphern.

Auch hier sind Licht und Dunkelheit zumeist einseitig verteilt:
Das Licht bringt Erleuchtung, Heil und Schutz.
Das Licht ist das Göttliche, und Jesus selbst ist das Licht.
Beispielhaft das Johannesevangelium im achten Kapitel:

Jesus spricht:

„Ich bin das Licht der Welt.
Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis,
sondern wird das Licht des Lebens haben.“ ( Johannesevangelium 8, 12)

Das Johannesevangelium ist voll von diesen dualistischen Metaphern, gnostisch geprägt.
Es ist um klare Abgrenzung zwischen gut und böse, hell und dunkel, richtig und falsch bemüht. Geprägt von apokalyptischer Naherwartung Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus. Die Menschheit sollte sich entscheiden:
Für oder gegen Christus,
für oder gegen den einen Gott,
für oder gegen das Heil.
So haben es die Menschen damals empfunden und gedeutet.

Und ich könnte weitere Bibelverse anfügen.
Das Prinzip ist stets ähnlich.

Nun ist gegen Licht und Orientierung überhaupt nichts einzuwenden.
Kerzenlicht im Advent und Licht im Dunklen können wunderschön sein und beruhigend, hilfreich, manchmal auch überlebensnotwendig.

Aber die Bibel kennt auch andere Bilder.
Sie ist differenzierter als ein erster Blick durch die biblischen Bücher vermuten lässt.

Im ersten Buch Mose (Kap. 32) kämpft Jakob mit dem Unbekannten am Jabbok.
Er kämpft nachts – ganz ohne Licht.
Er kann weder den Anderen erkennen noch etwas anderes sehen. Aber er kämpft.
Er kämpft gegen sich selbst,
gegen sein schlechtes Gewissen wegen des Erstlingssegen, den er gegen seinen Bruder Esau von seinem Vater Isaak  erschlichen hat.
Er kämpft gegen den Fremden,
gegen Gott, den ganz Anderen.
Er kämpft um seine Würde,
um Gottes Segen, um seine Zukunft.

Er kämpft in der Nacht.
Die Nacht an der Furt,
im Dazwischen,
ist die Zeit und der Ort,
nicht das grelle Licht des Tages.

 

Kampf im Schlamm,
Kampf auf der Grenze zwischen Trockenheit und Wasser,
zwischen Nacht und Tag,
zwischen Leben und Tod,
zwischen schuldig und nicht-schuldig,
zwischen Sein und Nicht-Sein,
zwischen Ende und Neubeginn,
zwischen Todesgefahr und Gottes Segen.

Am Ende der Nacht ist Jakob gezeichnet und verändert.
Er ist voller Narben und hat eine verletzte Hüfte.
Hinkend wird er weiter leben müssen.
Aber mit Gottes Segen.

Die Transformation, die Veränderung, der Segen.
Sie geschahen in der Dunkelheit vor der Dämmerung zum Tag.

Der Kampf um die eigene Existenz.
Er geschieht nicht nur in der Bibel,
Er geschieht in fast allen Mythen und Legenden in der Nacht.

Zwischen Krabat und dem geheimnisvollen Müller in der Mühle.
Zwischen den Hobbits, den Elfen, Gandalf und Samuran,
den Orks und der Armee der Toten im Kampf um den Ring.
Zwischen Harry Potter und Valdemort in der ultimativen Schlacht um die Vorherrschaft in Hogwart und der ganzen Welt.
Zwischen Eragon, dem Drachen Saphira und den Mächten der Unterwelt.

Die entscheidenden mythischen Schlachten geschehen in der Dunkelheit. Sie bringen Veränderung, Klärung und neue Fakten mit in den neuen Tag. Ohne die Geschehnisse der Nacht gibt es nichts Neues, keine Überraschungen, keine Veränderungen am nächsten Tag.

Es braucht also Dunkelheit und Licht.
Es braucht die Grautöne, Zwischentöne, Schattierungen,
Lichteinfälle, Abschattungen, Verstecke,
Rückzugsorte, Höhlen und Schutzräume, Zwischenräume
– im Hellen wie im Dunkeln.
Ohne Bewertung, Zuweisung, Kategorisierung.

Keine Schwarz- Weiß – Malerei.
Keine dualistischen Patentrezepte.
Keine rassistische Dämonisierung des Schwarzseins,
keine ideologische Verteufelung von Dunkelheit und Nacht.

Jakobs Kampf mit Gott geschah im Schutz der Nacht.
Und der Kampf endete mit Gottes Segen.

Amen

 

Predigt gehalten am 03.12.2015 zum Promotionstreffen des Evangelischen Studienwerks in Villigst.