Retten und Befreien. Biblische Befreiungserfahrungen ermutigen Gläubige auch heutzutage, auf Befreiung zu hoffen. Wie das gehen kann, erzähle ich hier.
„Meine Stärke und mein Lied ist mein Gott.
Er ist für mich zum Retter geworden!“
(Exodus 15,2)
Kurz und knapp besingt Mose das Ungeheuerliche, das er erlebt hat: Gott hat ihn und sein Volk gerettet. Gerettet wurden die Israelit_innen aus einer schier hoffnungslosen Situation. In Ägypten mussten sie Sklavenarbeit verrichten. Sie waren gefangen und hatten keine Hoffnung auf Befreiung. Aber Israels Gott berief Mose zum Führer und beauftragte ihn, die Israelit_innen aus der Gefangenschaft heraus zu führen. Das Unmögliche nahm Gestalt an. Nachdem der Pharao die Israelit_innen nicht freiwillig ziehen ließ, kamen zehn Plagen über Ägypten. Schließlich konnten die Israelit_innen fliehen. Allen voran Mose, sein Bruder Aaron und Mirjam, seine Schwester. Die Soldaten des Pharaos verfolgten sie, konnten aber nichts ausrichten. Sie ertranken im Schilfmeer, das sich laut biblischer Erzählung zuvor für die Geflüchteten geteilt hatte.
Der obige Vers ist der erste Vers von einem Lied, das Mose über Gottes Rettungsaktion gesungen hat (Exodus 15,2-19). Die anderen Verse liefern Details davon. Aber in diesem einen Vers ist bereits alles gesagt, was sich ins kollektive Gedächtnis Israels eingraviert hat und seitdem von einer Generation zur nächsten weiter gegeben wurde. Glaubt an Gott! Denn Gott ist stark. Er hat eure Vorfahren aus der Sklaverei in Ägypten geführt und sie vor Verfolgung gerettet. Dieses so genannte „Exodusmotiv“ ist bis heute ein Grundereignis jüdischer Erinnerung. Es wurde von Mose besungen und von seiner Schwester Mirjam im so genannten Mirjamlied zitiert, getrommelt und getanzt (Exodus 15, 20+21). Im jüdischen Gebet „Schma Jisrael“ („Höre Israel“) wird es bis heute erinnert.
Auch andere Unterdrückte haben sich das Exodusmotiv und die Lieder von Mose und Mirjam angeeignet und auf ihre Situation übertragen: Die schwarzen Sklaven, die Jahrhundertelang verschleppt und weltweit zur Sklavenarbeit verkauft wurden. Sie begannen in den USA Spirituals und Gospels zu singen. Darin besangen sie den Gott , der die Israelit_innen aus der Gefangenschaft befreit hatte und deshalb auch sie befreien würde.
Die lateinamerikanische Befreiungstheologie in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts berief sich ebenfalls auf das biblische Exodusmotiv. Die Befreiungstheologie wurde von Ernesto Cardenal, Leonardo Boff, Oscar Romero, Elsa Tamez und vielen anderen vertreten. Sie waren sich sicher: So wie Gott damals die Israelit_innen gerettet hatte, so würde er auch die einfachen Leute in Lateinamerika aus der Unterdrückung befreien. Die schwarzen, feministischen und queeren Befreiungstheologien schlossen sich an und übertrugen die alten biblischen Texte und Lieder von der Befreiung aus Unterdrückung in ihre jeweiligen Kontexte.
Der obige Liedvers spielt dabei bis heute eine wichtige Rolle. Denn Lieder werden gemeinsam gesungen und von Generation zu Generation mündlich weiter gegeben. Lieder gehen zu Herzen und bleiben im Herzen. Anders als dogmatische Texte und kluge Reden. Lieder bleiben im kollektiven Gedächtnis der Menschen – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Stand, Geschlechtsidentität, Religion, Befähigung und sexueller Orientierung. Lieder erinnern und ermutigen alle Menschen, die es hören wollen: Gott rettet und befreit aus Unterdrückung.
Letzte Kommentare