Trösten ist ein Zeichen von Mitleidenschaft und Mitmenschlichkeit.
„Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jesaja 66,13)
Dieser Text vom Propheten Jesaja ist die Jahreslosung für das Jahr 2016.
Der Text wurde im Jesajabuch rückblickend auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 587 v. Chr. formuliert und sollte die Bevölkerung Israels ermutigen und trösten.
Wenn ich den Vers höre, denke ich an die großartige Vertonung von Johannes Brahms im Deutschen Requiem von 1868. Der Chor singt diese Worte im fünften Satz des Requiems, während gleichzeitig ein voll klingender Solo-Sopran einen ganz anderen Text singt:
„Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ (Johannes 16,22).
Traurigkeit und Trost gehören zusammen. Und sogar Freude gehört dazu. Nicht immer tröstet mich jemand, wenn ich traurig bin. Aber wenn ich getröstet werde, bin ich aber fast immer traurig oder nieder geschlagen. Noch eine dritte Textzeile wird in den Text-Musik-Teppich eingeflochten:
„Sehet mich an; ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt und habe großen Trost gefunden.“ (Sirach 51,35).
Trauer, Mühe, Arbeit und Trost. Diese ineinander verschlungene Gemengelage von Lebensphasen und Gefühlen bringen die verschiedenen Textzeilen von Chor und Solo-Sopranstimme zum Ausdruck. Brahms hat diese Verbindung in der Architektur des Requiems im fünften Satzes wunderbar in Musik umgesetzt. Die drei Textzeilen werden gleichzeitig gesungen und sind genial ineinander gewoben.
Brahms spannt ein zartes Tuch göttlichen Trosts und beruhigt mit seiner Komposition verzweifelte Seelen. Trotzdem nehmen Text und Musik Trauer, Mühe, Arbeit und Verzweiflung ernst und umgehen sie nicht. Trost geschieht nicht durch Verdrängung, sondern dann wenn Trauer ausgesprochen und benannt wird.
Und wenn jemand da bleibt und den Schmerz teilt. Wie eine Mutter da ist und Trauer oder Schmerz ihrer Kinder ernst nimmt und mit trägt.
Die Musik richtet auf und weckt die Lebensgeister. Ich spüre ihre Energie und Hoffnung. Und die mitfühlende Haltung der Worte erinnert tatsächlich an viele Mütter weltweit, die ihre Kinder trösten, wenn ihnen etwas passiert oder ihnen Unrecht widerfährt. Dieses Gefühl von Mitmenschlichkeit und Mitleidenschaft, wie es Bärbel Warttenberg-Potter formuliert hat, wird mit Hilfe der Musik in meinem Körper spürbar. Ein Gottesbild, das Wirkung zeigt. Be-greifen mit allen Sinnen!
Und tatsächlich, die Jahreslosung scheint schon in diesen ersten Wochen des neuen Jahres nötiger denn je. Deutschland ist gespalten. Einerseits ist sexualisierte Gewalt in Köln und anderswo in unbekanntem Ausmaß zu beklagen. Andererseits steigt die Gewalt gegen Flüchtlingsunterkünften und Asylbewerber_innen in ganz Deutschland.
Angesichts der schrecklichen Ereignisse in der Silvesternacht in Köln frage ich mich, wie eine solche konzertierte kriminelle Aktion nicht entdeckt und verhindert werden konnte. Zugleich macht mich die Empörungsrhetorik und Dämonisierung nachdenklich, die sich gegen Asylsuchende und Ausländer_innen wenden, nicht aber das Phänomen sexualisierte Gewalt insgesamt im Blick haben. Denn die gibt es nicht erst seit dieser Silvesternacht. Dass der Alltag von Frauen schon vorher stets und überall von Übergriffen von angetrunkenen und nicht angetrunkenen einzelnen Männern und Männergruppen geprägt ist und sexualisierte Gewalt laut zahlreicher Statistiken vor allem aus dem bekannten Umfeld von Frauen kommt, ist vielen bisher offensichtlich entgangen.
Ich bin erschrocken über Hass, Hetze und Aufruf zur Selbstjustiz, die durch die sozialen Netzwerke rasen.
Und ich bin genervt von den vielen selbst ernannten Frauenverstehern und Frauenbeschützern, denen am Wohl der Frauen erst dann etwas zu liegen scheint, wenn die Täter afrikanischer oder arabischer Herkunft sind.
Die Initiative #ausnahmslos wurde am 11.01.2016 von 23 Feministinnen gegründet, um gegen diese ideologische Vereinnahmung der Vorkommnisse in Köln zu protestieren. Sie fordern Schutz und Sicherheit für Frauen gegen Gewalt ausnahmslos zu jeder Zeit an jedem Ort und nicht nur dann, wenn es für die eigenen Ziele genehm ist.
Kaum gefragt bleiben bei all dem öffentlichen und virtuellen Getöse die Opfer selbst. Sie gilt es zu schützen, ernst zunehmen und ihre Würde zu respektieren. Ich hoffe, dass die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln, in Hamburg, Stuttgart und anderswo schleunigst aufgeklärt und strafrechtlich verfolgt werden. Und ich erwarte, dass dem Schutz von Frauen, Mädchen und Jungs im öffentlichen Raum endlich die gesellschaftspolitische und juristische Priorität eingeräumt wird, die ihr zusteht.
In der Zwischenzeit sind Besonnenheit, sachliche Recherche und Anstand notwendig. Und die Fähigkeit mitzuleiden, zu trösten und da zu bleiben. So wie es – nicht nur – aber vor allem Abertausende Mütter weltweit tun.
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