Gedanken zu Stille und Unruhe, und warum es so schwierig ist, Ruhe zu finden.

Im April waren 20 Stipendiatinnen und Stipendiaten und vier Teamerinnen und Teamer für vier Tage im Kloster Drübeck im Harz. Die „96-Stunden-Pause“ ist ein Angebot der stipendiatischen AG Bildung zur Religion. Es gibt das Angebot seit über fünf Jahren.

Neben der intensiven Beschäftigung mit einer biblischen Geschichte, wird gesungen, gebetet, erzählt, diskutiert, kreativ gearbeitet, gelacht und Gottesdienst gefeiert. Morgens früh wird das so genannte Herzensgebet angeboten. Es ist ein stilles Gebet.
Alles, was am Herzen liegt und alles, was zu Herzen geht,
wird vor Gott gebracht.

Dazu ein kurzer Eindruck:

7:30 im Kloster Drübeck im Harz.
Acht Stipendiatinnen und Stipendiaten und ich sitzen auf Gebetsbänkchen im Kreis.
In der Mitte brennt eine Kerze.
Ein Lied aus Taizé, ein Gebet, ein Gong.
Dann Stille.

Vier Morgende hintereinander.

Am ersten Morgen sind es
15 Minuten Stille,
dann 20 Minuten,
dann 25 Minuten,
dann 30 Minuten Stille.

Jeden Morgen fünf Minuten mehr.
Die Studierenden wollen es so.
„Endlich mal Stille!
Nichts sagen,
nichts hören,
nichts tun.
Nur die Stille klingt.

„Das tut so gut!“, sagte eine der Stipendiat_innen nach der Stille.

Eine andere erzähle mir später:

„Mir sind Tränen gekommen, weil ich endlich einmal gar nichts tun musste und ruhig werden konnte.“

Am letzten Morgen berichtete ein Stipendiat:

„Am Anfang explodierte die Stille fast in mir, so laut ist sie gewesen – mit allen meinen Gedanken, Gefühlen, Bildern, die auf mich eingestürzt sind. Ich habe versucht, ruhig zu atmen.
Aber es hat gedauert, bis ich mich beruhigt habe.
Bisher habe ich sowas noch nie gemacht.
Aber es hat so gut getan, dass ich es versuchen möchte,
zuhause weiter zu machen.“

Die Erkenntnis aus dem Kloster:

Es braucht Zeit,
still zu werden.
Es braucht Übung,
Eindrücke wahrzunehmen und wieder ziehen zu lassen.
Es braucht Gelassenheit,
Gedanken kommen und gehen zu lassen.
Es braucht Gottvertrauen
fürs stille Gebet.

Denn es ist nicht einfach, die innere To-Do-Liste loszulassen.
Schnell hängt man sich an Bildern auf oder Gedanken,
an Stressgefühlen, Aufgaben, Ängsten und Sorgen.

Die Stipendiatinnen und Stipendiaten haben im Kloster nach Ruhe und Stille gesucht, die es in ihrem Alltag kaum noch gibt.
Damit geht es ihnen nicht besser oder schlechter als der Mehrheit der Bevölkerung.

Die Theologin Angelika Obert schlägt in einem Artikel zum Thema vor: Statt Ruhe zu suchen, geht es vielleicht darum, Unruhe einzugrenzen.

Unruhe eingrenzen.

Momente im Park oder in einer leeren Kirche.
Ein Gebet am Morgen, Laufen am Fluss, ein Spaziergang,
Ein freier Tag ohne Todo-Liste, ohne Termine und Pläne.

Das klingt machbar. Aber selbstverständlich ist es nicht.
Denn wenn so eine Ruhe-Zeit dann endlich da ist,
dann gelingt es oft nicht, ruhig zu werden.
Viele sind so auf Speed, dass es schwer fällt,
runterzufahren.
Andere fühlen sich getrieben, unruhig,
haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie nichts tun.
Dazu gehören viele unserer Stipendiatinnen und Stipendiaten.

Unruhe eingrenzen.

Dagegen steht die Alltagsdevise:
Stillstand ist Rückstand.

Durchstarten, Schritt halten,
Druck standhalten, Gang hochschalten,
Leistung steigern.
Das ist das Motto, das die Menschen umtreibt
und in Dauer-Unruhe versetzt.

Über dieses Phänomen hat der Philosoph Ralf Konersmann ein Buch geschrieben. Es heißt „Die Unruhe der Welt“. Unruhe ist Schicksal und Leidenschaft der Menschen zugleich.
So schreibt er.

Schon die biblische Urgeschichte zeigt dieses komplizierte Spannungsverhältnis:
Im Paradies war weder Bewegung noch Leistung nötig.
Es herrschte Ruhe und Frieden.
Aber das änderte sich schnell.
Adam und Eva probierten den Apfel vom Baum der Erkenntnis.
Sie waren neugierig.
Sie wollten lernen, verstehen,
wissen, begreifen, fühlen und sehen.
Sie aßen den Apfel und vorbei war es mit der Ruhe.
Sie wurden aus dem Paradies vertrieben.
Damit begann das menschliche Bewusstsein.
Die unstete Suche nach Erkenntnis, nach Abenteuer, Fortschritt und Entwicklung vertrieb die Ruhe als erstrebenswertes Ziel der Menschen.

Und es kam noch schlimmer, wie uns die Geschichte vom ersten Bruderpaar der Bibel erzählt.
Kain arbeitete hart. Er bestellte die Felder.
Abel dagegen hütete Schafe und schien nicht viel zu tun außer bei den Schafen zu sein.
Trotzdem nahm Gott sein Brandopfer an und nicht das von Kain.
Aus Wut und Eifersucht ermordete Kain seinen Bruder Abel
Der Rest ist Geschichte. Kain wurde bestraft und vertrieben.
Er musste nach dem Mord unstet und flüchtig weiter leben.
Er floh vor Gottes Zorn und ging ins „Land Nod“ (Gen 4,16).
Wörtlich übersetzt heißt das „Unrast“.

Unruhe und Unrast
Sie sollten das menschliche Schicksal werden und bleiben.
Bis heute.

Kains Nachkommen bauten Städte und führten Handel.
Deren Nachkommen forschten, bauten, entdeckten,
kauften und verkauften,
erfanden Kunst und Industrie,
Medizin und Technik.
Wunderbare Errungenschaften menschlicher Zivilisation,
die auf Erfindungsgeist und Schöpferkraft aufbauten
– und auf Unruhe und Unrast.

Unruhe eingrenzen.

Dazu hat der katholische Theologe Johann Baptist Metz folgenden Satz geschrieben:

Die kürzeste Definition von Religion ist die Unterbrechung!“

Unterbrechung von Hektik und Alltagsstress.
Unterbrechung von Leistungsdruck und Erfolgskennziffern.
Unterbrechung von Unrecht und Gewalt.
Zur Ruhe kommen, tief durchatmen, still werden im Gebet.
Alles, was uns stresst und schmerzt, freut und ängstigt,
beschäftigt und umtreibt vor Gott bringen,
um wieder Orientierung zu finden,
um erkennen zu können, worum es eigentlich geht.

Die klösterliche Lebensweise hat das früh entdeckt und lebt es bis heute. Alle anderen Menschen müssen diese Einsichten mühsam neu lernen. So auch die Stipendiatinnen und Stipendiaten.

Unruhe eingrenzen.
Schritt für Schritt und jeden Tag ein bisschen mehr.
Das Evangelische Studienwerk beteiligt sich mit Andachten, Gottesdiensten und geistlichen Angeboten an dieser Suche nach Ruhe und Stille.

Dann kann vielleicht das gelingen, was die Stipendiatinnen und Stipendiaten auf der 96-Stunden-Pause erlebt haben:
Sich trauen, jeden Tag ein wenig mehr Stille zuzulassen.
Möge Gott uns dabei begleiten und segnen.

Amen

 

Die Predigt habe ich gehalten am 12. Mai 2016 während der Andacht der Kuratoriumssitzung des Ev. Studienwerks in Villigst.