Richard C. Schneider hat im Jahr 2018 ein informatives und sehr persönliches Buch über die Lage in Israel geschrieben. Ich habe es  mit Gewinn gelesen.

Um es gleich vorneweg zu sagen: Das Buch „Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel“ von Richard C. Schneider  ist lesenswert. Es liefert wichtige historische Einordnungen und komplexes Hintergrundwissen zur Geschichte und zur aktuellen Situation in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten. Die reflexhafte gut – böse und richtig – falsch-Rhetorik, die so gerne aktiviert wird, wenn es um Israel geht, bedient das Buch nicht. Es beleuchtet stattdessen sachlich und informativ die schwierigen machtpolitischen, sozialen und religiösen Entwicklungen während und nach der Schoah in Europa und vor und nach der Staatengründung Israels. Die geopolitischen Kriege in Israel nach 1948 werden von Schneider genauso kritisch dargestellt und eingeordnet wie die machtpolitischen Bestrebungen israelischer und palästinensischer Politiker von der Staatengründung Israels bis hin zu Benyamin Netanyahu und Mahmud Abbas.

Das Buch scheut auch nicht die kritische Darstellung der innerisraelischen Spannungen zwischen säkularem Tel Aviv und dem orthodoxen Judentum, zwischen Aschkenasim und Sephardim, zwischen Ultranationalisten und Ultraorthodoxen. Genauso wenig lässt das Buch die innerpalästinensischen Machtkämpfe zwischen Hamas und Fatah und die zahlreichen machtstrategischen  Einflussnahmen der arabischen Länder rund um Israel aus.

Die jahrzehntelangen tektonischen Verschiebungen und Konfliktlagen werden von einem Mann vom Fach gewissenhaft dargestellt und reflektiert. Schneider bereist seit über 30 Jahren den Nahen Osten. Er war von 2006 bis 2015 Leiter und Chefkorrespondent des ARD-Studios Tel Aviv und verantwortlich für die Berichterstattung über Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete.

Schneider ist aber nicht nur professioneller Journalist und ausgewiesener Kenner der Region, sondern er ist auch jüdischer Deutscher mit ungarischen Wurzeln. Er reflektiert in diesem Buch erstaunlich persönlich über seine Herkunftsfamilie, über seine biografische Entwicklung und wie all dies seinen Blick auf die Welt und auf Israel geprägt hat. Seine Geschichte ist eng mit dem Schicksal der jüdischen Opfer und der Überlebenden der Schoah verbunden. Seine Eltern sind Juden Ungarischer Herkunft. Sie haben die Konzentrationslager der Nazis in Osteuropa überlebt. Sie wurden 1945 befreit, nur um vor judenfeindliche Kommunisten der UDSSR nach Westeuropa zu fliehen. Geschwister und Eltern seiner Eltern waren in den Konzentrationslagern der Nazis ums Leben gekommen. Wenn Schneider also davon schreibt, dass die Staatengründung Israels und das extrem hohe Sicherheitsbedürfnis der Israelis bis heute vor dem Hintergrund der Gräueltaten während der Schoah betrachtet werden müssen, dann weiß er genau, wovon er schreibt. Seine Eltern haben die Massenvernichtung von Juden und Jüdinnen überlebt und ihm das Grauen in seine DNA geschrieben.

Dennoch tut Schneider das eine nicht, was angesichts seiner Herkunft verständlich gewesen wäre: Er schreibt nicht einseitig aus jüdischer Sicht. Er kritisiert israelische Siedlungs- und Besatzungspolitik genauso wie die von der Hamas verordneten Bombenangriffe, die Gewalt und den Terror. Schneider weigert sich, wie zahlreiche andere Menschen in Israel, die anderen lediglich als Feinde zu sehen. Er differenziert und weist stoisch immer wieder auf die Komplexität der Verhältnisse hin, die keine einfachen Lösungen zulässt. Rezeptvorschläge liefert er nicht. Denn es gibt sie nicht.

Dennoch benennt er strukturelle Probleme des Antisemitismus. Sie mischen sich unter die emotional aufgeladene politische Gemengelage in Israel und verkomplizieren das sowieso schon komplizierte Gesamtbild noch einmal. Schneider sieht den Antisemitismus nicht nur bei Moslems, bei Rechtspopulisten und Rechtsnationalen, sondern auch bei Linksextremisten und vielen Linksintellektuellen. Am Beispiel der Bewegung des BDS („Boykott, Divestment & Sanctions“, auf deutsch: Boykott, Investitionsabzug & Sanktionen) zeigt er auf, wie perfide manche Verantwortliche der Boykottbewegung nicht nur dazu aufrufen, Produkte israelischer Siedler aus den illegalen Siedlungsgebieten zu boykottieren, sondern Israel insgesamt boykottiert werden soll. Schneider zeigt darüber hinaus, dass laut Programm und  Rhetorik der Boykottbewegung von vielen auch das Existenzrecht Israels insgesamt infrage gestellt wird. Am schärfsten verwahrt er sich dagegen, dass Israel mit der Apartheidspolitik des weißen Südafrikas vor Gründung der „Regenbogennation“ 1994 verglichen wird. Man könne die historische und geopolitische Entwicklung  der beiden Länder nicht miteinander vergleichen. Sie habe im Falle Südafrikas zu staatlich verordneten und legitimierten Rassismus und Massenmord geführt. In Israel dagegen haben die Auswirkungen der Schoah, der Fluchtbewegung europäischer Juden, der Staatengründung und der wechselhaften Konfliktlinien der politischen Akteure zu komplizierten sicherheitspolitischen Verhandlungen und Entwicklungen geführt. Es sei zweifelsohne viel Unrecht geschehen, aber keine systematische Diskriminierung, geschweige denn Massenmord, staatlich veranlasst worden.

Im letzten Kapitel verlässt Schneider den sachlichen und  bis dahin stets um Mäßigung und Differenziertheit bemühten Ton des Buchs. Er wird emotionaler. Bei der Frage, ob man als Jude überhaupt objektiv über Israel berichten kann, wird er deutlich: Warum sollte er das nicht können? Ober besser gefragt: Warum sollte ein christlicher oder muslimischer Journalist besser über Israel berichten können als er? Schneider hält die Zweifel  an der Objektivität eines jüdischen Berichterstatters für antisemitisch und obendrein für ein typisch deutsches Phänomen. Seines Erachtens zeigt der Zweifel, dass es in Deutschland immer nicht als normal angesehen wird, dass ein Jude auch ein Deutscher ist. Schneider hält den interessierten Leserinnen und Lesern entgegen, dass auch der Korrespondent der New York Times in Israel Jude sei, genauso wie die Korrespondenten vom ORF und von France 2 Juden sind.

Schneider scheint für seine Berichterstattung massiv attackiert worden zu sein. Sonst hätte er nicht so emotional geschrieben. Für mich war er stets ein Vorbild sachlicher Berichterstattung in einer schier undurchdringlichen und nicht auflösbar konflikthaften Situation in Israel. Meine Reaktion auf seine emotionalen Töne im Buch: Natürlich ist seine Position subjektiv. So subjektiv wie jeder andere Journalist und jede andere Journalistin subjektiv schreibt, auch wenn sie sich noch so sehr um Objektivität bemüht. Das macht das Berichtete aber nicht schlechter. Im Gegenteil. So lange die eigene Perspektive transparent gemacht wird und so lange jemand so differenziert und informativ über ein Thema berichtet, wie Schneider das tut, ist es sogar eine Voraussetzung für Professionalität und Redlichkeit. Mit anderen Worten: Lesen sie das Buch, wenn Sie den so genannten Nahost-Konflikt besser verstehen wollen. Es lohnt sich!

 

Zum Weiterlesen:

Richard C. Schneider, Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2018