Die Predigt habe ich beim Abschlussgottesdienst der Coming-In-Konferenz in Marburg am 8. November 2025 gehalten.
Gemeinden, Kirchen, Religionsgemeinschaften, Zivilgesellschaft:
Sie alle brauchen Menschen, die Verschiedenes interessiert, die Anderes können, die Talente und Ressourcen haben, die sie für sich selbst und für andere einsetzen: haupt-, neben- und ehrenamtlich. Sonst funktionieren Gemeinde und Gemeinschaften nicht. Damit das respektvoll und gut läuft, braucht es einen gemeinsamen Spirit.
Genau davon spricht Paulus im 1. Korintherbrief im 12. Kapitel.
Paulus erinnert die damalige kleine christliche Gemeinschaft in Korinth, dass es nicht darum geht, mit Dogmen und Verboten alle auf eine Linie zu bringen und in ein Schema zu pressen. Genau das tun nämlich einige Mitglieder aus der Gemeinde und es führt zu Streit und zu Konflikten: Was ist richtig christlich, was ist falsch? Was ist sündig, was nicht? Was dürfen sie essen, was nicht? Solche Fragen treiben sie um und sie streiten sich unablässig darüber. Die Streitigkeiten wiederum halten sie davon ab, gemeinsam Gottesdienst zu feiern und füreinander da zu sein. Paulus macht das Sorgen. Immerhin ist Korinth damals eine multireligiöse und interkulturell geprägte Hafenstadt mit Handelsleuten aus ganz verschiedenen Ländern und Kulturen.
Die christliche Gemeinschaft ist eine Minderheit und wird kritisch beobachtet: Was sind das für Leute und was glauben sie? Sind sie loyal gegenüber der Obrigkeit oder planen sie einen Aufstand? Das ist eine gefährliche Situation für die junge Gemeinde. Umso wichtiger ist es für Paulus, dass die Gemeinschaft nach innen gestärkt wird und nach außen ausstrahlt.
Deshalb stellt er klar: Es geht doch darum, jede Person mit ihrer besonderen Lebensgeschichte und ihren Talenten anzusehen und anzuerkennen. Es geht darum, gemeinsam mit den anderen friedlich und respektvoll zusammen zu leben. Es geht darum miteinander Gott zu loben und fürsorglich miteinander umzugehen. Klar braucht es dafür Regeln, aber nicht, um alles und jedes in einem dogmatischen Regelwerk zu ersticken.
Paulus ist überzeugt: Es macht eine Gemeinschaft attraktiv, wenn sie gastfreundlich ist und Menschen willkommen heißt, miteinander isst und trinkt, Gottesdienst feiert und ja – sich über Grundlagen verständigt. Auch da ist Paulus klar. Die Grundlage christlichen Lebens hat Jesus uns eindeutig mitgegeben:
„Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst!“
Das Doppelgebot der Liebe.
Jesus hat dieses Doppelgebot als das höchste Gebot bezeichnet. Es umfasst alles. Und alles andere ist nachgeordnet. Alles was ihr tut, lasst in Liebe geschehen. So sagt es die Bibel auch. Im Griechischen steht hier Agape, also nicht romantische oder erotische Liebe, sondern die Fähigkeit andere freundschaftlich zu lieben, zu achten und zu respektieren: Nächstenliebe eben, genauso wie Selbstliebe. Das ist der gemeinsame Spirit! Und der wirkt bis heute.
Und wenn der Spirit stimmt, dann kann die Heilige Geistkraft loslegen, uns durchpusten, durchschütteln, provozieren, inspirieren und wehen, wo sie will. Dazu braucht sie die Fähigkeiten und Qualifikationen von vielen Leuten. Denn sie denken mit, gestalten mit, sie reden und schweigen, glauben und zweifeln, singen und loben, beten und klagen, lachen und weinen, machen und verändern. Und wenn die einen nicht können, dann sind andere da. Kurz: der Spirit Gottes braucht uns alle. Und wir brauchen Gottes Geistkraft und uns gegenseitig. Aber nicht, weil wir alle gleich sind, sondern gerade weil wir verschieden sind und ganz unterschiedliche Fähigkeiten, Perspektiven und Erfahrungen mitbringen. Und die sind wertvoll!
Denn sonst funktioniert das Ganze nicht. So wie ein Körper nicht funktioniert, wenn nur Arme oder nur Beine oder nur das Herz funktionieren, aber alle anderen Organe, innere und äußere Glieder und Sinne nicht. Alle Fähigkeiten sind dafür notwendig. Und Gottes Geistkraft hält das Ganze zusammen: Und dieses Ganze ist bunt, divers, chaotisch, kreativ, voller Energie und Krisen, gast- und queer-freundlich. Und es ist geprägt von biblischen Geschichten. Die erzählen davon, wie es Menschen vor uns in biblischer Zeit trotz aller Konflikte, Kriege und Krisen geschafft haben, sich immer wieder zusammenzuraufen und friedlich miteinander zusammenzuleben. Was sich dabei zeigt: Gott ist da. Auch für uns!
Ein konkretes Beispiel dafür ist für mich das European Forum of LGBTI+ Christian Groups.
Es ist ein Dachverband von mehr als 40 queeren christlichen Gruppen, Allies & Friends ganz verschiedener Traditionen, Konfessionen, Freikirchen und Gemeinschaften aus über 25 europäischen Ländern. Das European Forum wurde 1982 in Paris gegründet. Und seitdem wächst es stetig. Einmal im Jahr gibt es eine Jahrestagung in einer europäischen Stadt, die von einem regionalen Team vorbereitet wird. 120 bis 150 Personen aus ganz verschiedenen Ländern und ganz unterschiedlichen Frömmigkeiten, sexuellen und geschlechtlichen Identitäten nehmen daran teil. die Leute diskutieren und lernen voneinander, feiern Gottesdienst und Partys und arbeiten kirchenpolitisch in verschiedenen Arbeitsgruppen Länderübergreifend zusammen.
Ich selbst bin seit fast 30 Jahren beim European Forum dabei. Und viele der Leute dort sind für mich – bei aller Verschiedenheit – zu meiner europäischen Wahlfamilie geworden. Deshalb habe ich dazu mal was getextet:
European Forum
Ein Leib und viele Glieder
da geht´s nicht nur um die alten Lieder.
Ich erleb´s jeden Tag und mit klarer Sicht:
ohne die anderen geht es nicht.
Am European Forum kann ich´s seh´n.
Die einen kommen, viele bleiben, andere geh´n.
Lesben, Schwule, Bi-, Trans, Non-binäre, genderqueere Gläubige und Allies haben dort Heimat gefunden.
Dafür reisen sie jedes Jahr viele lange Stunden.
Das Netzwerk bietet Begegnung, Gemeinschaft, Solidarität, Loben und Klagen.
Gemeinsam mit anderen kann ich´s wagen,
mich zu zeigen und mich verwundbar zu machen.
Denn andern geht´s genauso; wir können gemeinsam weinen und lachen.
Eric, Michael, Dennis, Renato, Tom und Johann,
schwule Gläubige aus Europa gingen mutig voran.
Sie hatten 1982 ´nen Traum und eine kühne Vision,
ohne Solidarität und Gemeinschaft, was bringt das schon?
Da ist Misza aus Polen,
wie Tatjana, Jana, Olga und andere aus Russland geflohen.
Kriminalisiert und als Terroristen verschrie´n.
Ihr Leben auf der Flucht – und ein wenig Zeit gelieh´n.
Lyoshka, Alexa, Luca, Max und Co
als non-binäre aus verschiedenen Ländern gerade mal so,
geduldet, oft traumatisiert und theologisch verbannt,
im European Forum haben sie ihre Geschwister erkannt.
Hilde, Randi, Tarja, Brenda, Pam, Heleen, Momo, Steffi und Co
als lesbische Frauen oft unsichtbar, verkannt und ich sage mal so,
wenn sie nicht selbst die Stimme erheben,
hört sie kaum jemand sonst und es gibt kein Beben.
Da sind Hass, Hetze und Gewalt, wie sie Trans-Personen kennen.
Oliver, Elaine, Shanon, Elizabeta, sie alle können es benennen.
Queerfeindlichkeit, Transphobie, mit der Bibel in der Hand
wird da ein Götze als Gott bekannt,
…der Menschen verdammt, weil sie anders sind.
Dabei ist doch jede Person Gottes geliebtes Kind.
Ohne das European Forum lebten einige schon lange nicht mehr,
wären vereinsamt, verzweifelt, ohne Schutz und ohne Gewähr.
Die einen sind rhetorisch klug
und formulieren klar und deutlich, es ist genug!
Andere können strategisch planen und Leute vernetzen,
die gegen Menschenverachtung kämpfen und sich aktiv einsetzen
…gegen Hass, Hetze, Diskriminierung und Gewalt,
während wieder andere mit Musik Leute zusammen bringen, Jung und Alt.
Und queere Geistliche Andacht und Gottesdienste feiern
und andere zum Loben und Klagen einladen, ohne herum zu eiern.
Da sind Menschen, die andere segnen und nicht verfluchen.
Da sind Menschen, die andere halten, trösten und nach Wegen suchen.
Da sind Menschen, die gemeinsam beten und leben.
An anderen Orten führt das zu heftigen Beben.
Zum European Forum kommen Leute aus ganz verschiedenen Ländern,
sie sind unterschiedlich fromm und manche sind dabei sich zu verändern.
Einige sind schon seit langem dabei,
jedes Jahr kommen neue dazu, sie sind willkommen und einerlei,
…woher sie kommen und wen sie lieben,
gehören sie dazu, sind geliebt von Gott und ob auf Wolke sieben
oder im tiefen Tal,
ob in Trauer, auf der Flucht oder ausgespuckt aus Jonas Wal;
sie alle gehören dazu, im großen wie im kleinen,
vielfältig vereint, beim Lachen und beim Weinen.
Einheit in Vielfalt verbindet sie am bunten Leib Christi.
sie leben, lieben und lachen gemeinsam und Gott vergisst sie never – ever, nie!
Sie hören sich zu, nehmen sich ernst und feiern miteinander,
sie probieren aus, lernen und gestalten das bunte Durcheinander,
das Verschiedenheit und Konflikte mit sich bringen mag,
genauso wie Reichtum, Solidarität und Ermutigung, alles an einem Tag.
Das European Forum zeigt mir: Gemeinsam können wir es schaffen,
queer und nicht queer, fromm und nicht fromm, Laien und Pfaffen.
Ich bin überzeugt , Gott ist dabei mit Schutz und Segen.
Lasst uns zusammen weiter gehen – auf gemeinsamen und auf ganz verschiedenen Wegen!
Amen



Letzte Kommentare