Der Monatsspruch für November 2018 erzählt von einem neuen Jerusalem, das nicht von Menschen gemacht wird. Nach der Vision des Johannes wird es eine friedliche Stadt sein. Dummheit oder hoffnungsvolle Utopie?
„Du heilige Stadt Jerusalem, die neue, sah ich aus dem Himmel herabsteigen, von Gott bereitet wie eine Braut, geschmückt für ihren Mann.“ (Offb. 21,2)
Johannes, der angebliche Autor des Buchs der Offenbarungen, schrieb ca. 95 nach Christus sieben Sendschreiben an sieben christliche Gemeinden in Kleinasien. Christen und Christinnen wurden damals vom Römischen Kaiser verfolgt. Sie durften ihren christlichen Glauben nicht öffentlich zeigen. Ihnen drohten Ausgrenzung und Verfolgung. Das war eine existenziell bedrohliche Situation. Keine guten Aussichten für die jungen christlichen Gemeinden.
Mitten in diese scheinbar ausweglose Situation hinein schrieb Johannes in den Sendschreiben von seiner Vision: Er sah ein neues Jerusalem. Nicht die damals bekannte Stadt, in der der zweite jüdische Tempel von den Römern zerstört worden war. Nicht die Stadt, in der die Römer als Besatzer herrschten. Nicht die Stadt, in der Glaubensgemeinschaften unterdrückt und verfolgt wurden. Stattdessen sah Johannes ein „neues Jerusalem“. Dieses Jerusalem war nicht von Menschen gebaut. Die Stadt stieg vom Himmel herab. Denn sie kam von Gott. Sie war geschmückt wie eine Braut auf dem Weg zur Hochzeit. Denn es gab etwas zu feiern. Niemand musste mehr vor Verfolgung Es herrschte Frieden. Das Bild vom neuen Jerusalem ist im 21. Kapitel der Johannesoffenbarung eingebettet in eine noch größere Vision von einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“. Alles sollte neu werden. Keine Gewalt sollte mehr herrschen. Unterdrückung und Verfolgung wären vorbei. Und Gott würde unter den Menschen wohnen, inmitten der neuen Stadt Jerusalem.
Soweit die Vision von Johannes. Sie zeichnet ein feierliches, ein friedliches Bild. So ganz anders, als Jerusalem damals tatsächlich war. Aber auch ganz anders, als Jerusalem sich im Jahr 2018 darstellt.
Ich komme gerade von einer Israelreise des Evangelischen Studienwerks wieder. Wir waren mit 19 Stipendiaten und Stipendiatinnen in Kooperation mit dem Berliner Missionswerk in Israel und in den palästinensischen Autonomiegebieten und haben natürlich auch Jerusalem besucht.
Die Stadt ist ein faszinierender Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Religionen. Fürs Judentum, Christentum und für den Islam ist die Stadt heilig. Politisch ist Jerusalem die Hauptstadt Israels. Und auch die Palästinenser pochen auf ihr Recht, Ostjerusalem zur Hauptstadt ihres erhofften eigenständigen Staates ausrufen zu können. Seit siebzig Jahren warten sie auf die Umsetzung einer Zweistaaten-Lösung. Wie verfahren und zerstritten die gesamte Situation ist, haben die internationalen Proteste anlässlich der Verlegung der US-Amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem gezeigt. Die Stimmung ist vergifteter denn je.
Überall in der Stadt Jerusalem sieht man israelische Soldaten. Zum Tempelberg oberhalb der Klagemauer kommt man nur durch eine extrem gesicherte Sicherheitsschleuse. Auch zur Klagemauer kommt man nur nach einer strengen Sicherheitskontrolle. Die Fronten sind verhärtet. Die Angst vor Terroranschlägen und vor der Eskalation von Hass und Gewalt ist ständig präsent. Aber es gibt auch andere Bilder: Friedliche Basarverkäufer in Ostjerusalem, die jüdische, christliche und muslimische Kunst und Ritualgegenstände verkaufen. An der Klagemauer beten Juden und Jüdinnen aus der ganzen Welt. Und oben auf dem Tempelberg kommen Muslime zum Gebet zusammen. Auf der via Dolorosa findet man christliche Pilgerreisende. Dazwischen tummelt sich Alltagsleben in einer nicht alltäglichen Stadt.
Angesichts dieser komplexen Situation fällt es nicht leicht, der Vision des Johannes von einem neuen Jerusalem zu folgen. Vielleicht ist es aber gerade auch ein nüchternes Bild: Ein friedliches – neues – Jerusalem kann nur von Gott kommen, nicht von verfeindeten Menschen. Und es kann nur im Kontext eines neuen Himmels und einer neuen Erde kommen, in der die alten Feindschaften, Hass und Gewalt beendet werden.
Es fällt mir weiterhin schwer daran zu glauben. Doch dann fallen mir wieder einige unserer Gespräche ein mit engagierten Menschen in Israel und in den palästinensischen Autonomiegebieten. Diese Leute versuchen je an ihrem Ort die Gewaltspirale zu durchbrechen und Hass durch Respekt zu ersetzen: Im jüdisch liberalen Leo-Baeck-Bildungszentrum in Haifa, wo jüdische und muslimische Kinder und Jugendliche zusammen zur Schule gehen. Im christlich palästinensischen Talitha-Kumi-Schulzentrum in Beit Jala/Westbank, wo christliche und muslimische Kinder und Jugendliche gemeinsam unterrichtet werden. In verschiedenen interreligiösen und interkulturellen Begegnungszentren wie das christlich-jüdische Begegnungszentrum Nes Ammim, das palästinensische Tent Of Nations auf der Westbank, die lutherisch palästinensische Abrahams Herberge in Beit Jala oder anderswo.
Dort bemühen Menschen sich darum, sichere Begegnungsorte zu schaffen, um die Anderen nicht mehr als Feinde, sondern als Menschen und Gottes Ebenbilder zu achten. Sie alle stehen für kleine Hoffnungsgeschichten inmitten einer nicht enden wollenden Gewaltspirale. Diese Hoffnungsgeschichten sollten wir weiter erzählen. Vielleicht wird´s dann wirklich was mit dem neuen Jerusalem.
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