Zwischen den Jahren ist eine Zeit dazwischen. Ein kostbarer Zwischenraum. Begrenzt von den zwei Großereignissen Weihnachten und Silvester. Die Zeit ist merkwürdig schwerelos, planlos, zeitlos.

Bis Weihnachten rackern sich die meisten ab, um Berufliches zu erledigen, Termine abzuarbeiten, Geschenke zu kaufen, letzte Vorbereitungen zu treffen. Stress, Zeitmangel und Krankheitsanfälligkeit überbieten sich in dieser Zeit.

Dann kommt aus dem vollen Lauf das Weihnachtsfest und damit je nach Partnerschaft, Familie, Freundinnen, Freunden und Umfeld ein meist streng ritualisiertes Procedere mit hohen Erwartungen und diversen Risikofaktoren enttäuscht zu werden. Die Weihnachtsfeiern nehmen ihren Lauf.
Mit Überraschungen, Freude, Frust, Krisen und Leiderfahrungen. Die Zeit ist  definiert, dicht und zumindest in unseren Breitengraden meist übervoll gepackt mit Programm, Besuchen, Geschenken und zu viel Essen.

Und nach den Weihnachtsfeiertagen?
Dann beginnt sie, die Zeit zwischen den Jahren. Die Zwischenzeit. Es sind die freien Tage bis Silvester. Weihnachten war schon. Silvester ist noch nicht. Es ist eine „Schon-jetzt-noch-nicht-Zeit“, wie es der Apostel Paulus formuliert hatte. Paulus hat damit eine Haltung bezeichnet. Die Haltung wachsam zu sein, geistig aufmerksam, offen für Neues, für Unvorhergesehenes, für das Andere. Offen für Gottes Zeichen. Darauf hat Paulus gewartet, etwa 50 nach Christus.

Auch wenn man nicht auf Gottes Zeichen wartet. Die Haltung der „Schon-jetzt-noch-nicht-Zeit“ finde ich spannend. Sie macht wachsam und neugierig. Sie ist nicht bestimmt von Regeln, wie man sich verhalten soll. Vielmehr ist sie geprägt von der Offenheit, sich auf den Moment einzulassen. Sich treiben lassen ohne Terminkalender. Der gilt erst im neuen Jahr wieder. Es ist eine Zeit jenseits der Zeit. Eine andere Zeit, die entdeckt werden und erspürt werden kann.

Ich mag diese Zeit zwischen den Jahren. Leider ist sie eng begrenzt. Durch Silvester. Dann stehen wieder Feiern, Veranstaltungen, lose oder feste Verabredungen an. Irgendwie muss man diesen Übergang ja begehen. Kaum jemand, der oder die gar nichts macht in der Nacht vom alten Jahr ins neue. Und selbst diejenigen, die nicht feiern, müssen sich zu Silvester irgendwie verhalten.

Aber die Tage dazwischen werde ich in Ruhe gelassen. Zumindest wenn ich nicht arbeiten gehe. Und selbst am Arbeitsplatz  will zwischen den Jahren kaum jemand etwas von mir wissen. Das ändert sich erst nach Neujahr wieder.

Aber wie ist das nun mit den Tagen zwischen den Jahren?
Ich habe diese Tage schon als Kind geliebt. Endlich kein Termin- und Besuchsstress mehr, keine Familienrituale, keine Pflichtbesuche. Endlich Zeit Geschenke auszuprobieren, Bücher zu lesen, Musik zu hören, Spiele zu spielen. Endlich Zeit zum Ausschlafen, planlos in die Luft zu gucken oder zum nichts tun. Eine Zeit in Erwartung auf das neue Jahr. Zeit zurück zu blicken und zu bilanzieren:
Was war mir wichtig? Was hat mir Freude bereitet? Mit wem habe ich Zeit verbracht? Wen habe ich vermisst? Was ist misslungen? Was war traurig, schmerzlich, verlustreich?

Vielleicht bleibt auch ein Moment, um nach vorne zu schauen: Was wünsche ich mir fürs neue Jahr? Was von dieser geschenkten Zeit kann ich mit in meinen Rhythmus im neuen Jahr mitnehmen?
Wie kann ich aufmerksam und neugierig bleiben, offen für Überraschungen, offen für Neues?

Die Zeit zwischen den Jahren ist eine geschenkte Zeit. Zeit, die nicht so durchgetaktet ist, wie die meiste andere Zeit im Jahr. Die Zwischenzeit ist begrenzt, hat einen klaren Anfang und ein klares Ende. Und vielleicht wirkt diese Zeit genau deswegen so bezaubernd und geheimnisvoll.

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Der britische Ethnologe und Ritualforscher Victor Turner (1920 – 1983) bezeichnete den Zwischenraum zwischen einem klar definierten Beginn und Ende eines Rituals als liminale, also verflüssigte Phase oder Schwellenphase. Turner hatte Symbole und religiöse Rituale von Mitgliedern von tribalen Stämmen im südlichen Afrika untersucht. Ziel war es, die Bedeutung von Ritualen für Initiations- und Veränderungsdynamiken zu erforschen. Die liminale Phase ist nach Turner die Phase in einem Ritual, in der ein Übergang geschieht. Dann ist alles und nichts möglich: Chaos, Bewegung, Veränderung und unzähmbare Energie. Bei manchen Ritualen werden im Zwischenraum trancehaft im Tanz Gegenwelten zur bestehenden Gesellschaft erzeugt und scheinbar feste Identitätsmarker verändert oder verflüssigt. Bei anderen Ritualen werden Übergänge von der Jugend ins Erwachsenenalter vollzogen, gesellschaftliche Rollen und Hierarchien werden außer Kraft gesetzt und damit Möglichkeiten für neue Aufgabenbereiche und Positionen im Stammesgefüge ermöglicht.

Im Hinblick auf westliche Gesellschaften identifizierte Turner Theaterbühnen, kulturelle Inszenierungen, Musik, Extremsport und andere Freizeitaktivitäten als hybride Zwischenräume.
Dort können Vorgänge inszeniert werden, die sonst in der Gesellschaft tabuisiert oder nicht erlaubt sind. Turner nannte sie liminoide Prozesse. Liminoid heißt schwer kontrollierbar, hybrid, aufwühlend. Sie erzeugen Neben-, Gegen- und Zwischenwelten, initiieren Veränderungen, bringen Hierarchien ins Wanken und erschaffen Zukunftsvisionen, wie es Fantasy- und Science Fiction-Welten und die digitalen Welten  des Internets heute tun. Die Zeit zwischen den Jahren hat in der Regel nicht so eine Wucht und forciert auch keine Veränderungsdynamik. Aber sie ist eine Zwischenzeit in einer Zwischenwelt.

Und Zwischenwelten ist eines gleich:  sie sind in Bewegung, schwer kontrollierbar und haben das Potenzial Menschen und Gemeinschaftsgefüge zu verändern. Gleichzeitig markieren sie eine Auszeit. Eine Zeit, die nicht verzweckt und nicht kontrolliert ist. Eine Zeit, die einfach ist. Ohne Termine, ohne vorgegebenes Procedere, ohne Ablaufplan. Deshalb ist es eine kostbare Zeit. Das habe ich schon als Kind gespürt.

Es ist eine Zeit, die mich ermutigt, immer wieder kleine Gegenwelten zum durchgetakteten Alltag zu schaffen. Kleine Auszeiten. Kleine Gegenwelten. Zeit für Fantasie, Überraschungen und Visionen.
Für 2016 nehme ich mir vor: Zwischenzeiten und Zwischenwelten bewusst ermöglichen. Und häufiger einfach nur sein.