Im Monatsspruch Juni geht es um Gastfreundschaft und neue Begegnungen. Wen frau dabei trifft, kann niemand vorher wissen.

„Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ (Hebräerbrief 13,2)

Gastfrei.
Frei von Gästen oder offen für Gäste?, frage ich mich, als ich den Bibelvers einige Male gelesen habe. Frei von Lust auf Gästen oder offen für das, was kommt? Verwirrt entscheide ich mich für Letzteres. Denn nur so könnte ich ohne mein Wissen Engel beherbergen. Wissend, dass ich es nicht weiß und vermutlich niemals erfahren werde. Auf die Haltung kommt es an. Darum geht es in diesem Bibelvers.

Zweckfrei, offen, unstrategisch. So kam der Augenblick daher, als ich mich vor einigen Jahren mit Tatjana auf einer internationalen theologischen Konferenz anfing zu unterhalten. Wir waren beide neugierig und offen an jenem Abend. Wir nickten uns freundlich zu am Buffet, füllten unsere Teller und setzten uns nebeneinander an einen Tisch. Tatjana stellte sich mir vor. Ich stellte mich ihr vor. Sie kommt aus Belarus, lebt schon eine Weile in Deutschland und studiert orthodoxe Theologie. Nein falsch, sie promoviert darüber.

„Wieso das denn?“, fragte ich sie. „Was können Frauen denn damit anfangen?“

„Sie können lernen, ihre Wurzeln und religiösen Traditionen zu verstehen“, erklärte sie mir.
„Sie können lernen, Kirche im 21. Jahrhundert mitzugestalten. Sie können lernen, akademisch mit zu diskutieren und ihre Sicht der Dinge öffentlich machen. Denn ihre Stimmen fehlen schmerzlich in der orthodoxen Theologie und Tradition. Das können Frauen damit anfangen.“

„Und“, fügte sie schmunzelnd hinzu, „sie können andere Frauen ermutigen ebenfalls das Wort zu ergreifen und ihre Erfahrungen ernst zunehmen und anderen davon zu erzählen. Deshalb promoviere ich über orthodoxe Theologie. Und ich kritisiere gleichzeitig die dominante Männersicht auf den Alltag, die Orthodoxe Kirche und das Leben in Belarus und anderswo.“

Ich war erst einmal sprachlos. Das hatte ich nicht erwartet. Eine kluge junge Frau aus Belarus, die sich in ihrer orthodoxen Theologie und Tradition gut auskennt, auf Konferenzen Vorträge hält, über die Menschenrechte von Frauen und Minderheiten spricht und Lust hat, sich mit mir über all das zu unterhalten. Ich, die ich über orthodoxe Theologie, naja, wenig bis gar nichts weiß. Es wurde ein langer und spannender Abend für uns beide. Seitdem hat mich Tatjana schon mehrfach besucht und ich sie. Eine Freundschaft ist daraus geworden. Eine Schwester im Geiste habe ich gewonnen. Und viel gelernt habe ich von ihr. Dafür bin ich sehr dankbar.

Ob wir deshalb Engel füreinander oder für andere geworden sind? Das bleibt offen. Sicher ist, dass uns unsere offene und neugierige Haltung einen spannenden Abend und eine wertvolle Freundschaft geschenkt hat. In diesem Sinne wünsche ich uns allen Erfahrungen von Gastfreundschaft und offene Begegnungen. Wer weiß, vielleicht beherbergen wir ja einmal einen Engel.