Um es gleich vorne weg zu sagen: Das Buch „Unheilige Heilige“ hat mich fasziniert. Ich habe es in zwei Tagen durchgelesen. Das ist mir mit einem theologischen Buch noch nie passiert.
Aber es ist eben kein klassisches theologisches Buch mit vielen klugen und richtigen Sätzen. Es ist ein Buch aus dem vollen Leben. Es verbindet erlebte und durchlittene Erfahrungen mit theologischen Fragen und Gedanken.
Nadia Bolz-Weber gelingt es, ihre Erlebnisse als Pfarrerin der Gemeinde „House for All Saints and Sinners“ (Haus für alle Heiligen und Sünder) in Denver/Colorado mit ihrer eigenen Suchgeschichte, mit ihren Zweifeln und Hoffnungen zu verknüpfen. Ihre Sprache ist dabei erfrischend gerade heraus und ohne Schnörkel. Sie benutzt nicht gerade wenige Schimpfworte, für die sie während ihrer theologischen Ausbildung auch schon einmal von Vorgesetzten einbestellt und verwarnt worden war. Sie hat sich ihre Sprache aber nicht verbieten lassen. Aber ihre Selbstironie und ihre etwas schnoddrige Sprache ist nie verletzend, sondern bleibt respektvoll gegenüber den Meschen,die sie beschreibt. Sie verheimlicht in ihrem Bauch auch nicht, dass sie früher Alkoholikerin war und dass sie in der Zeit wenig auf die Reihe bekommen hat. Sie formuliert offen, dass sie als trockene Alkoholikerin mit Suchtthemen leben muss und dass sie in ihrer Pubertät ziemlich selbstbezogen, ignorant und aggressiv anderen gegenüber war, also ein ziemliches Scheusal gewesen sein muss. So sieht sie es jedenfalls in der Rückschau.
Nadia Bolz-Weber zeigt sich in ihrem Buch verletzlich. Sie erzählt Geschichten aus ihrem Alltag, in denen Menschen ihr mit ihren Schicksalsschlägen, Dramen, mit Trauer und verzweifelten Fragen begegnen und sie bis an die Grenze ihrer Professionalität herausfordern. Angenehm ist, dass sie keine Rezepte und schnellen Antworten für die Menschen parat hält, sondern da ist und sich auf eine Reise mit ihnen begibt. Und das, obwohl sie oftmals gar keine Lust auf Konversation und Begegnung hat. Wenn sie sich dennoch darauf einlässt, passieren in solchen Begegnungen wichtige Dinge. Sie lernt mit den Menschen, denen sie zuhört. Oftmals ist dabei die Alltagsklugheit ihres Gegenübers der entscheidende Schlüssel zum weiteren Verlauf der Geschichte.
Es geschieht Unvorhergesehenes, Überraschendes, Berührendes. Und das alles ist eingebunden in eine feste Struktur. Die Vorgaben des Kirchenjahres und der lutherischen Liturgie werden eingehalten und bieten Orientierung und Rahmung für moderne Ausgestaltungen und Interpretationen, sowohl von biblischen Texten als auch von kirchlichen Festen und Anlässen.
Es ist kein Zufall, dass in der Gemeinde insbesondere der Tag von Allerheiligen groß gefeiert wird und alle Gemeindeglieder ihre eigenen Heiligen (und Unheiligen) mitbringen und vorstellen können. Genau dieser Tag ist im Protestantismus allerdings kritisiert und abgeschafft worden und durch die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten. Nadia Bolz-Weber und ihre Gemeinde beleben diesen Tag auch in der lutherischen Tradition neu und verknüpfen ihn mit Vorbildern, Alltagsheldinnen und Helden aus der Jetztzeit.
Das ist vielleicht die stärkste Attraktion von Nadia Bolz-Weber und ihrer Gemeinde. Sie verbinden feste traditionelle und liturgische Vorgaben und füllen sie mit aktuellen Erfahrungen und modernen Formen der ritualisierten Bearbeitung. Dabei wird in der Gemeinde niemand ausgeschlossen. Im Gegenteil, die Gemeinde setzt sich zusammen aus einer ganzen Reihe von Menschen, die aus anderen Lebensbereichen und Kontexten schon einmal ausgeschlossen worden sind: Drag Queens, Schwule, Lesben, Transgender, Rollstuhlfahrende, von sexualisierter Gewalt Gezeichnete, Suchtkranke, Tätowierte, Atheisten, Zweifelnde und viele andere mehr.
Nadia Bolz-Weber rätselt einmal in ihrem Buch, warum in ihrer Gemeine nicht die coolen Hipster zuhause sind, die sie sich in ihren geheimen Fantasien wünscht. Viele in den Vereinigten Staaten und anderswo denken, dass solche Hipster Mitglieder in ihrer Gemeinde sind. Stattdessen sind es diejenigen, die sonst niemand haben will und die eher die Gemeinschaft der Außenseiter, Minderheiten und am Rande Stehenden sind. Sie beantwortet sich die Frage dann selbst. Natürlich sind es die Ausgestoßenen. Die Coolen haben viele andere Orte und Bühnen und brauchen die Gemeinde nicht. Die Ausgestoßenen schon. Es sind genau diejenigen, zu denen sie in ihrem Leben selbst lange gehört hat. Und es sind genau diejenigen, mit denen auch Jesus gemeinsam gegessen, geredet und gefeiert hat. Warum sollte das heute anders sein?
Was mir gut gefallen hat, ist dass in dem Buch kein paternalistischer Habitus weht. Auch keine christliche Selbstgerechtigkeit. Die, die kommen, sind die Richtigen. Sie bringen ihre Fähigkeiten und Katastrophen mit und fügen sich ein in eine bunte und verletzliche Gemeinschaft. Diejenige, die am meisten daraus lernt, ist die Pfarrerin. Dass sie dies beschreibt, ohne ihre eigenen Leistungen unter den Scheffel zu stellen, macht das Buch zu einem erfrischenden und nachdenklich stimmende Bericht aus dem vollen Leben.
Absolut lesenswert! Nicht nur für Theologinnen und Theologen!
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