James Baldwins Werk „Go Tell It On The Mountain“ ist letztes Jahr auf Deutsch unter dem Titel „Von dieser Welt“ neu übersetzt worden. Nicht nur in Deutschland wird James Baldwin seitdem eifrig zitiert und seine literarische Bedeutung debattiert.
Das Buch „Von dieser Welt“ ist ein stark autobiografisch geprägter Roman. James Baldwin veröffentlichte ihn schon 1953. Der 14-jährige Protagonist John Grimes wächst mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seinen Geschwistern in Harlem der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts auf. Armut, Perspektivlosigkeit und Arbeitslosigkeit prägen den Alltag und den sozialen Kontext in Harlem der damaligen Zeit. Beschrieben werden in dem Buch aber vor allem Selbsthass und brutale Unterdrückungsmechanismen in der schwarzen Community selbst. Sie wurden laut Baldwin begründet und angeheizt durch religiösen Fundamentalismus und rigiden Moralismus von schwarzen charismatischen (Pfingst-) Gemeinden. Zu so einer Gemeinde gehören auch John und seine Familie.
Die im Buch eindringlich beschriebene Form des religiösen Eifers und rigiden Moralismus hat auch James Baldwin in seiner Herkunftsfamilie erlebt. Sein Stiefvater war wie im Buch Prediger in einer Pfingstgemeinde in Harlem. James kam wie sein Protagonist im Buch überhaupt nicht mit seinem Stiefvater klar. Der Prediger war aus den Südstaaten aus der moralischen Enge und dem dort herrschenden offenen Rassismus nach New York gekommen. In New York wird er als Prediger allerdings selbst zur Personifikation moralischer Enge und Despotismus. Das eigene Scheitern und die Unzulänglichkeiten des Predigers gegenüber Ehefrau, Familie und Beruf wendet er aggressiv gegen andere. Er predigt Sünde, Höllenqualen,Tod und Teufel und sieht alle um sich herum, allen voran seinen Stiefsohn, als verlorene Seelen an. Nur sich selbst nimmt er von diesem Schicksal als bekehrter und berufener Prediger aus. Vor allem seine eigene Schwester Florence, die auch in New York lebt, kritisiert seine überhebliche Selbstgerechtigkeit und fehlende Selbstkritik.Johns Mutter Elisabeth ist ebenfalls aus den Südstaaten nach New York gekommen in der Hoffnung, dort ein würdevolles Leben zu finden. Ihr erster Freund und Vater von John hatte sich aufgrund von rassistisch motivierten Gefängnis- und Gewalterfahrungen das Leben genommen. Darüber kommt Johns Mutter nie hinweg. Ihr zweiter Mann scheint zunächst ein Segen für die alleinerziehende, recht- und geldlose Frau zu sein. Aber er entpuppt sich als schimpfender und zuweilen gewalttätiger Demagoge, der sein eigenes Leben nicht in den Griff bekommt.
Religiösen Fanatismus machte James Baldwin nicht nur in diesem Buch, sondern Zeit seines Lebens für internalisierten Rassismus und Selbsthass verantwortlich.Andererseits würdigt er in dem Buch auch die befreiende Kraft des christlichen Glaubens und der biblischen Geschichten, wie sie beispielsweise in schwarzer Gospelmusik, im Jazz oder in Soulmusik zum Ausdruck kommen. Wie andere schwarze Prediger und Predigerinnen, Gospelsänger und Feiheitskämpferinnen bezog er sich auf das biblische Motiv der Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei und auf den Auszug Israels aus Ägypten. Dieses sogenannte Exodusmotiv ist bis heute die Grundfigur jeder Befreiungstheologie. Sie war und ist auch grundlegend für christlich geprägte Mitglieder der Black Consciousness Bewegung in den USA seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Religion spielt also eine ambivalente Rolle in Baldwins Büchern. Der Protagonist John hat mit 14 Jahren ein starkes religiöses Bekehrungserlebnis, so wie es James Baldwin selbst mit 14 Jahren erlebt hatte. Während das Buch „Von dieser Welt“ damit endet, war Baldwin bis zu seinem 17. Lebensjahr daraufhin selbst freier Prediger in der Gemeinde seines Vaters. Danach wendete er sich allerdings völlig von der heimischen Pfingstgemeinde und jeder anderen Form von religiösem Eifer ab. Baldwin erkannte, dass es genau diese rigide Form von religiösem Extremismus war, die Schwarze gesellschaftlich und persönlich in den Abgrund führte.
Erst nach dieser Abkehr war es ihm möglich, seinen sexuellen Neigungen nachzugehen und schwulen Sex und queere Beziehungen auszuprobieren. Am deutlichsten hat er darüber in „Giovannis Zimmer“ geschrieben. Genauso wie sich Baldwin sein Leben lang gegen das Label „Protestliteratur“ im Hinblick auf seine Veröffentlichungen wehrte, lehnte er allerdings auch das Label „Homosexualität“ für sich ab. Für ihn war das Leben viel komplexer, als es solche Kategorien je ausdrücken konnten. Damit bleibt Baldwin bis heute anschlussfähig für theoretische und philosophische Debatten um so genannte schwarze Identitäten, Genderidentitäten und Sexualitätsdiskurse. Am eindrücklichsten kommt sein literarischer und lebensgeschichtlicher Einfluss auf damalige und heutige Debatten in dem Dokumentarfilm von Raoul Peck „I am not your Negro“ zum Ausdruck. Der Dokumentarfilm basiert auf dem unveröffentlichten Roman „Remember This House“ von Baldwin. In ihm unterhält sich Baldwin mit drei Weggefährten der schwarzen Befreiungsbewegung, die alle drei ermordet wurden: Medgar Evers, Malcom X und Martin Luther King Junior. Raoul Peck verwendet dafür eine Fülle von Briefen, Texten, Fotos und Videomitschnitten. „I Am Not Your Hero“ stellte James Baldwin über Nacht auch einem breiten interessierten Publikum vor.
Baldwins literarischer Einfluss auf die schwarze und queere Befreingsbewegung ist unzweifelhaft. Was mir dagegen auffällt: In den aktuellen Lobeshymnen auf James Baldwin fehlen zumeist die Stimmen und Geschichten von afroamerikanischen und queeren Autorinnen wie Toni Morrison, Audre Lorde und anderen. Baldwins Werk muss nicht geschmälert werden, um auch diesen Autorinnen und Aktivistinnen angemessene Beachtung und aktualisierte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Toni Morrisons jüngster Roman „Gott, hilf dem Kind“ bietet dazu beste Gelegenheit.
Zum Weiterlesen und –hören
James Baldwin, Von dieser Welt, München 2018
James Baldwin, Giovannis Zimmer, München 2015
Toni Morrison, Gott, hilf dem Kind, Reinbek bei Hamburg 2017
Rainer Hörmann, Go Tell It, Blogeintrag auf Kreuz & Queer (evangelisch.de, 2018)
Marko Martin, Mit Jazz und Bibel gegen Repression, Deutschlandfunk Kultur (8.03.2018)
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